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Die wiedertäuferischen Hutterer

50. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 17.12.1997 von Helge Martens

Inhalt:

These

Einleitung


I.Glauben

1. Glaubensgrundsätze und Geschichte der Hutterischen Brüder

2. Die Hutterische Weltauffassung und daraus resultierende Siedlungsform


II.Räume

1. Der "Himmi" als Ziel allen hutterischen Strebens

2. Der Bruderhof als Mittelpunkt hutterischen Lebens

3. Das Agrarland als Sicherheitsabstand zur "Welt"

4. "Die Welt" als Gegenpol zum eigenen Bruderhof

5. Innere bauliche Differenzierung der Bruderhöfe


Fazit

Literatur



These

Die Annahme, daß sich Ideologie, Weltsicht und Ideen in raumwirksamen Siedlungsstrukturen niederschlagen, läßt sich besonders deutlich anhand der klosterähnlichen "Bruderhöfe" der hutterischen Brüder in Nordamerika zeigen. Spirituell-transzendental ganz auf das Jenseits gerichtet, sind ihre Siedlungen in ihrer reinen Funktionalität ein klarer Ausdruck ihrer Weltsicht: Unser diesseitiges Leben ist nur ein vorübergehender Seelenzustand, in Hutterersicht ein "Jammertal", in dem alles darauf gerichtet sein muß, das jenseitige Seelenheil zu erlangen. Auch in ihrer dreiteiligen Raumwahrnehmung spiegelt sich ihr biblisches Weltbild wider.

Einleitung

Die Hutterischen Brüder sind eine wiedertäuferische Gemeinschaft radikaler Christen, welche aus der Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Neben den Mennoniten in Kanada und den Amischen in Pennsylvania sind sie zahlenmäßig eine der drei bedeutendsten Täuferbewegungen. Diese drei Gruppen zählen gegenwärtig mehrere hunderttausend Seelen. Auch ist bei allen drei Wiedertäuferbewegungen eine Abstufung in der Liberalität bzw. Radikalität des Bekenntnisses und somit der Lebensweise vorhanden. Bei den Hutterern ist seit ihrer Auswanderung nach Nordamerika im Jahre l870 ff eine Unterteilung in die konservativen "Lehrerleut", die gemäßigteren "Dariusleut" und in die liberalen "Schmiedeleut" erfolgt. Die Bezeichnungen gehen auf Berufe oder Namen der damaligen "Gründungsväter" dieser Gruppen zurück. Diese Gruppen, welche nicht selten in räumlicher Nachbarschaft zueinander wohnen, leben in genereller Heiratstrennung zueinander, so daß ein Mitgliederaustausch nur sehr bedingt stattfindet. Schon die heute in Nordamerika lebenden Hutterer stammen von nur wenigen Familien ab, etwa 400 Personen. Über die Folgen kann spekuliert werden. Die meisten Wiedertäufer haben sich in Nordamerika ein altertümliches Deutsch als Umgangs- und- Gottesdienstsprache bewahrt. Nach langer Verfolgung und jahrhundertelanger Flucht durch Europa siedelten in den 70'er Jahren des letzten Jahrhunderts die Vorfahren der heutigen Hutterer von Rußland in den Mittleren Westen der USA über. Nachdem sie auch dort unter Repressalien zu leiden hatten, wanderte die Mehrzahl ab 1918 nach Kanada aus, so daß sich das heutige Siedlungsgebiet der Hutterer auf den zentralen und nördlichen Westen der USA und Kanadas erstreckt. Die relativ homogene Lebensform der Hutterer ist in den letzten beiden Jahrzehnten in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten untersucht worden. Dabei haben Linguisten, Historiker, Germanisten, Nordamerikanisten, Theologen und Erziehungswissenschaftler versucht, sich der christlich-radikalen Lebensweise unter verschiedenen Fragestellungen zu nähern. Einer Erfassung des hutterischen Wesens kommt allerdings eine unwissenschaftliche Arbeit am nächsten: Dabei handelt es sich um den Bericht von Michael HOLZACH, welcher seine Erfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse, welche er bei einem einjährigen Aufenthalt auf einem hutterischen Bruderhof machte, 1982 unter dem Titel "Das vergessene Volk" publizierte. Dieser Bericht hat die wissenschaftliche wie öffentliche Aufmerksamkeit auf die deutschsprachige Gruppe gelenkt.

Ziel dieser Arbeit soll es sein, den Zusammenhang zwischen Weltbild und Siedlungsform bei den Hutterern zu beleuchten. Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, daß jedes Weltbild, jede Herrschaftsform, jede Ideologie eine bestimmte, geographisch nachweisbare Raumwirksamkeit erlangt. Diese Raumwirksamkeit schlägt sich in einem wahrnehmbaren Zusammenhang zwischen Gedankengut und Weltauffassung bzw. Weltsicht einerseits sowie in Siedlungsform, Architekturgestaltung und Raumwahrnehmung andererseits nieder. Als Vertreter dieses methodischen Ansatzes ist in erster Linie der Kulturhistoriker und Kunstgeschichtler Wolfgang BRAUNFELS zu nennen, der mit seiner Abhandlung "Abendländische Stadtbaukunst" Herrschaftsform und Baugestalt methodisch für den europäischen Stadtraum das herausgearbeitet hat, was hier in Bezug auf die Hutterer für die ländliche Siedlung gilt, denn die Hutterer in ihrer Weltabgewandtheit sind entschiedene Antiurbanisten. Es sollen Aspekte der siedlungsgeographischen Raumgestaltung, abgeleitet aus einem urchristlichen Weltbild, im Mittelpunkt stehen. Auch die christlich-radikale Weltsicht, welche eine dreiteilige spirituelle Raumwahrnehmung zur Folge hat, soll behandelt werden. Die hutterische Glaubensgemeinschaft könnte von außen als utopischer Versuch gesehen werden, ein besseres Leben in der Abgeschiedenheit von der Welt zu erreichen. Im Verlaufe der Untersuchung soll aber gezeigt werden, daß sich aus dem hutterischen Selbstvertändnis eine solche utopische Sichtweise nicht ergibt. Überhaupt sollte man bei den religiösen Gruppen fragen, in wieweit sie durch ihre religiöse Weltsicht unter den sehr weltlich geprägten Begriff "Utopia" fallen. Dieses fällt um so schwerer, je stärker der Gedanke an das irdische Dasein als ein "Jammertal" (2. Petrus 3, 10) ausgeprägt ist, wie es bei den Hutterern der Fall ist. Es ist zu fragen, ob sich eine Subsumierung dieser Glaubensgruppen unter den weltlichen Begriff Utopia nicht in dem Moment entzieht, in dem eben dieses irdische Dasein als Übergangszustand auf dem Weg zum ewigen Leben, also zum Gottesreich, gesehen wird.

I. Glauben

1. Glaubensgrundsätze und Geschichte der Hutterischen Brüder

Die Hutterer sind nach einem ihrer Märtyrer benannt. Die Wurzeln der Hutterer liegen in der deutschen Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts. Da die Gruppen, ständigen Verfolgungen ausgesetzt waren, spielen die Schilderungen der frühen Verfolgung, niedergelegt in mehreren Schriften, als Gründungsmythen eine wichtige identitätsstiftende Rolle, die die weltabgewandte Grundeinstellung und somit alles Mißtrauen gegenüber "der Welt" noch einmal unterstreicht. Das Grundprinzip der hutterischen Weltanschauung ist die biblische Unterteilung in "gut" und "böse", Gottes "Himmi"/"Himmel" und des Teufels "werlt"/"Welt" in "wir" und "die anderen". Hutterer sehen sich in dieser Welt zwar als Gottes Volk,- aber eben als eines, welches aufgrund seiner Glaubensgrundsätze ständigen Verfolgungen ausgesetzt ist und welches "wie eine Herde Schafe zur Schlachtbank" (Hesekiel 22, 27; Psalm 79,13) geführt wird. Für sie ist das irdische Dasein ein "Jammertal", welches die Funktion des Fegefeuers schon vorwegnimmt: Im irdischen Dasein, einer Übergangsstufe der mit dem Leib und seinen Bedürfnissen belasteten Seele, hat der Mensch sich zu entscheiden: Für Gott und das ewige Leben oder für diese Welt, die des Teufels ist. Daraus läßt sich auch die Verdammung von Lust und Luxus ableiten, berücksichtigt man die große Bedeutung der Ängste die Hutterer vor weltlichen Verführungen haben. Diese Verführungen sind des Teufels und einzig und allein darauf gerichtet, den Menschen und seine Seele zu verderben. Aus diesem bipolaren Weltbild lassen sich Siedlungsform und Architekturgestaltung ableiten. Wie mittelalterliche Klöster sind die dörflichen Siedlungen der Hutterer in den Prärien Nordamerikas gestaltet: Weltabgewandt, schlicht, funktional, gemeinschaftsfördernd, isoliert und karg. Die Hutterer betrachten ihre "Bruderhöfe", deren Einwohnerzahl 125 Seelen nicht übertrifft, als "Archen" im "Meer der Sünde dieser Welt". In extremer Klausur erwarten sie in großfamiliärer Gütergemeinschaft, Privateigentum lehnen sie ab, am räumlichen Ende der Welt das zeitliche Ende. Ihre dörflichen Bauformen wiederholen auch bei jeder Neugründung einer Kolonie die Siedlungsgrundrisse. Dabei erinnern ihre Dörfer in ihrer funktionalen Gestalt tatsächlich eher an mittelalterliche Klosteranlagen denn an säkulare Dörfer. Auch ihr Sicherheitsabstand zu den nordamerikanischen Siedlungen der "Englischa" erinnert an das Siedlungsverhalten der Zisterzienser in Mittel- und Osteuropa. Die Hutterer verstehen sich als radikale Urchristen. Grundlage ihrer Glaubensgemeinschaft sind die Bibel und das Gesangbuch sowie diverse Schriften aus der Huttererfrühzeit (16./17. Jh.). Oftmals werden sie als "Urkommunisten" bezeichnet. Diese Vermengung von hutterisch- christlichem Selbstverständnis und weltlicher Interpretation ist auf Mißverständnisse der Außenwelt zurückzuführen, welchen gewisse sozialromantische Züge nicht abzusprechen sind. Die Mißverständnisse fangen schon bei den Denkkategorien an: Die kommunistische Ideologie ist weltlich-materialistisch ausgerichtet. Ihr transzendenter Anspruch besteht wenn, dann im Materialismus. Er ist somit rein weltlich und entbehrt jeglichen wirklichen spirituellen überweltlichen Charakters. Die Hutterer hingegen lehnen die Spielregeln dieser Welt vollkommen ab. Sie sind wirtschaftlich autark, leben von der Agrarwirtschaft und lehnen jegliches revolutionäres Gehabe ab. Sie wollen die Welt nicht verbessern oder verändern, sondern durch die Befolgung von Gottes Wort ertragen und überwinden. Mit mörderischen weltlichen Ideologien haben sie nichts gemein,- ja sie lehnen schon gemäßigte Forderungen der Welt ab wie die Anerkennung jeglicher weltlicher Obrigkeit; also auch ein staatliches Schulsystem, das ordentliche Gerichtswesen, grundsätzlich auch die Steuererhebung,- vom Militärdienst ganz zu schweigen. Ihre Weltsicht ist passivistisch,- ihr ganzes Streben dient der Erlangung des jenseitigen Seelenheils. Auch hier drängt sich wieder der klösterliche Vergleich (vgl. claudere, lat. (ver-) schließen) mit den antiurbanistischen Bettelorden des Mittelalters auf: Hutterer folgen, dem Prinzip, daß das Seelenheil unter Gleichgesinnten leichter erlangt werden kann als in ständiger Konfrontation mit der Außenwelt und ihren teuflischen Werten und Versuchungen. Daraus ist auch ihre Abneigung gegen das staatliche Schulsystem abzuleiten. Die Angst, -ein starker Motivationsgrund ihres irdischen Daseins-, durch weltliche Lehrer und Lerninhalte würden ihre Kinder mit zu vielen weltlichen Werten konfrontiert und ihnen entfremdet, hat sie ein eigenes Volksschulsystem ausbilden lassen. Dem Lehrer kommt somit in der Gemeinschaft eine herausragende Stellung zu. Da auch höhere Schulbildung als "eitel" und zur Erlangung des Seelenheils als hinderlich angesehen wird, werden die Kinder sieben Jahre im Lesen und Schreiben sowie Rechnen unterrichtet. Dahinter steht die Auffassung, daß ein Hutterer in erster Linie die Bibel lesen und verstehen können muß. Alles darüber Hinausgehende wird mißtrauisch abgelehnt. In manchen Staaten besteht allerdings nicht nur eine Unterrichts-, sondern auch eine Schulpflicht, so daß es sich nicht verhindern läßt, daß amerikanische "Weltmenschen" als Lehrer in den Huttererkolonien unterrichten müssen. Das Erziehungswesen ist in Bodo HILDEBRANDs Buch "Erziehung zur Gemeinschaft" dezidiert beschrieben und analysiert worden.

Die Gemeinschaft der Hutterer trägt deutlich fundamentalistische Züge: Teile der Heiligen Schrift werden von ihnen absolut gesetzt und wörtlich befolgt. Sie entziehen sich jeglicher Textkritik und betrachten die Zehn Gebote als Gesetze. Bibelzitate wie "verflucht sei der Acker um deinetwillen. Mit Mühsal sollst Dich von ihm nähren..." (l MOSE 3, 17), "unter Mühen sollst Du Kinder gebären" (l MOSE 3, 16), "die Weiber lasset schweigen- in der Gemeinde" (l. Korinther 14, 34), "der Mann ist des Weibes Haupt" (Epheser 5, 23; l MOSE 3, 16), "Ihr Weiber sollt nicht die Kleider der Männer tragen" (5. MOSE 22, 5), "ein Weib soll das Haupt bedecken" (l. Korinther II, 6) werden wörtlich im Alltag umgesetzt. Andere Bibelstellen hingegen spielen in ihrem Bewußtsein keine übergeordnete Rolle, so das Missionsgebot (Markus 16, 15; Matthäus 28, 16), das Kindstaufgebot, die Obrigkeitsrechtfertigung der Paulusbriefe (Römer 13), das Abendmahlsgebot usw. Das unterstreicht ihre fundamentalistische Tendenz.

Der Stein des Anstoßes, der zu jahrhundertelanger Verfolgung und grausamen Folterungen und Hinrichtungen geführt hat war die Weigerung der ersten Glaubensbrüder, die Kindstaufe zu vollziehen. Auf dem Reichstag zu Speyer 1529 wurde die Verweigerung der Kindstaufe bzw. die Durchführung der Erwachsenentaufe per Reichsgesetz bei Todesstrafe verboten. Als die ersten Hutterer trotzdem an der Erwachsenentaufe festhielten, wurden sie sofort von römisch-katholischer als auch von evangelischer Seite schärfstens verfolgt. Auch andere Verweigerungen führten zu Verfolgungen, so z.B. die Eidverweigerung. Aus heutiger Sicht scheint uns die damals empfundene Bedrohung der öffentlichen Ordnung unverständlich,- damals wurde allerdings aus Sicht der Herrschenden die ökonomisch-rechtliche Welt auf den Kopf gestellt: Die Feudalhierarchie beruht beispielsweise auf dem Lehnseid und auch die mittelalterliche Gerichtsordnung kommt ohne Eid nicht aus. Ein kurzer Überblick der Fluchtstationen macht das Ausmaß der Verfolgungen deutlich. Die Geschichte der Hutterer ist auch eine Geschichte der Verfolgung- und Vertreibung:

Nachdem, die Hutterischen Brüder als radikale Abspaltungen neben anderen Wiedertäuferbewegungen (Mennoniten, Amische) aus der deutschen Reformation hervorgegangen waren, kam es 1525 bei Zürich zu der ersten- hutterischen Glaubenstaufe. Schon ein Jahr später wurde in Zürich das Täufertum bei Todesstrafe durch Ertränken verboten. Die Verfolgungen führten allerdings dazu, daß die Flüchtigen im ganzen süddeutschen Raum ihr Glaubensbekenntnis verbreiten konnten, so daß ständig neue Anhänger gewonnen werden konnten.

1526 wurde durch den täuferischen Theologen und ehemaligen Prorektor der Universität Ingolstadt, HUBMAIER, das südmährische Nikolsburg samt Landesherren für den hutterischen Glauben gewonnen. Somit wurde Südmähren ein Zentrum des Täufertums, indem auch Verfolgte hier Zuflucht fanden. Schon bald aber spaltete sich die Gemeinschaft in pazifistischen "Stäbler" und gewaltbejahende "Schwertler". Die "Stäbler" wanderten nach Austerlitz aus, wo sie die Gütergemeinschaft einführten und einen ersten Bruderhof gründeten. Dort stieß auch der namengebende Jakob HUTTER mit einer südtiroler Gruppe zu den Austerlitzer Brüdern, Nach erneuten Streitigkeiten um die richtige Durchsetzung der Gütergemeinschaft kam es erneut zur Teilung der Gruppe. Dabei siedelten sich die 150 Anhänger Wilhelm REUBLINS und Jörg ZAUNRINGS 1531 in Auspitz an. 1533 wurde nach weiteren internen "Skandalen" Jakob HUTTER erster "Bischof" der Gemeinde.

Zwar wurde HUTTER schon 1536 in Innsbruck auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, er hatte es aber geschafft, der zerstrittenen und verunsicherten Gemeinde durch eine äußere Form einen inneren Zusammenhalt zu geben. Erst seit diesem Zeitpunkt läßt sich von den "Hutterischen Brüdern" im heutigen Sinne sprechen. Grundlage ihres gemeinschaftlichen Lebens wurden die sieben "Schlattener Artikel" des Rottenburger Michael SATTLER, welche auch von anderen pazifistischen Täufern des süddeutschen Raumes anerkannt wurden:

1. Erwachsenentaufe
2. Bann und Vermahnung als einzige Strafen, zur Reinhaltung der Kirche
3. Das Abendmahl als Gedächtnismahl zu halten
4. Absonderung von der bösen Welt
5. Wahl des Hirten/Predigers durch die Gemeinde, die ihn bei Verfehlungen abwählen muß
6. Ablehnung aller weltlichen Gewalt wie Kriegsdienst, Gerichtsbarkeit und öffentliche Ämter
7. Ablehnung des Eides

Gegen Ende des 16. Jh. Gibt es etwa 20.000 getaufte Hutterer in etwa 100 Bruderhöfen. Die meisten süddeutschen Täufergruppen hatten sich ihnen angeschlossen. Es findet eine rege Missionstätigkeit statt. Peter RIEDEMANN verfaßt 1541 in hessischer Gefangenschaft die bis heute gültige Bekenntnisschrift der Hutterer "Rechenschaft unserer Religion". Bis zum Ausbruch, der Türkenkriege leben die Hutterer in relativer Sicherheit. Es ist die "goldene Zeit" unter Bischof WALPOT.

1593: Mit dem Ausbruch, der Türkenkriege beginnt die große Flucht nach Osten, welche sich bis ins 19. Jh erstrecken wird: Wegen der großen Reichtümer und Vorräte der Hutterer werden, ihre Höfe geplündert und gebrandschatzt. Viele Gläubige werden getötet.
Bis 1622: Vertreibung der Hutterer aus Mähren nach Siebenbürgen (Bruderhof "Alwinz"). In der Slowakei (30 Bruderhöfe) kommen fast alle Hutterer durch direkte und- indirekte Kriegseinwirkungen um.
1648 "Bischof" Andreas EHRENPREIS reorganisiert die Gemeinden. Die Mitte des 17. Jh gilt als die Blütezeit hutterischen Literaturschaffens: "Lehren" und "Vorreden" entstehen, die bis heute als vorbildliche Bibelauslegungen, gelten.
1690: In Siebenbürgen muß auf den Höfen wegen der äußeren Bedrohung die Gütergemeinschaft aufgegeben werden.
1740 ff: Unter MARIA THERESIA werden die Jesuiten mit der "Rekatholisierung" der verbliebenen Hutterer beauftragt. Es kommt zu Militäreinsätzen, Zwangstaufen, Zwangsadoptionen und weiteren Verfolgungen.
1756: Aus Kärnten stößt eine Lutheranergruppe zu den Siebenbürger Brüdern. Die sprachliche Beeinflussung ist gravierend und noch heute in der hutterischen Alltagssprache linguistisch nachweisbar. In den folgenden Jahren führen Plünderungen und Kriegswirren im osmanisch besetzten Siebenbürgen zur Flucht in die Walachai.
1770 zieht die Gruppe weiter in die Ukraine, welche zu Rußland gehört. An der Desna können die Flüchtlinge auf dem Privatland des Grafen Pjotr RUMJANZOW (1725-1796) einen Bruderhof gründen. Alte Schriften dienen als Leitfaden für eine Neuorganisation der Gruppe.
1782 ff: Illegale Flucht von 56 Hutterern aus der Slowakei unter Mithilfe von Herrnhutern in Schlesien und Mennoniten in Westpreußen. Gleichzeitig schließen sich einige Mennoniten den Hutterern in der Ukraine an.
1801: Umsiedlung auf Kronland, da sich die Erben nach dem Tod des Grafen nicht an die privilegierenden Verträge (Land, Steuerfreiheit, Dienstfreiheit, Eidverweigerung,...) halten wollen. Zar ALEXANDER I. stellt die Hutterer den Mennoniten rechtlich gleich.
1802 hat die Hutterersiedlung bei dem Dorf Raditschema 240 Seelen. Es kommt zur inneren Desorganisation der Gemeinde und zum Abfall von der Gütergemeinschaft.
1818 zieht die Mehrheit der Familien, unter dem Prediger J. WALTER aus Raditschema aus, um sich in der Khortitzer Mennonitenkolonie anzusiedeln. Wirtschaftliche Schwierigkeiten.
1841: Umsiedlung in das Gebiet der Molotschnaer Mennoniten durch Unterstützung, von Johann CORNIES (1789-1848), eines bedeutenden mennonitischen Reformers: Errichtung der Siedlung Huttental, Angleichung an mennonitische Bauweise. Einführung der Liebesheirat (vorher: Zwangsheirat ohne Einwirkung der Eheleute) und der reformierten mennonitischen Siedlerschule, Private Landwirtschaft.
1853: Gründung neuer Siedlungen (Johannesruh 1853, Hutterdorf 1857, Neuhuttertal 1866, Schernomat 1868).
1857: Religiöse Erneuerung der Gemeinden
1859: Der Schmied Michael WALDNER gründet in Huttendorf einen Bruderhof ("Schmiedeleut", ein Jahr später auch Darius WALTER ("Dariusleut").
1867 kehrt der Lehrer Jakob WIPF mit seiner Gemeinde zur Gütergemeinschaft zurück ("Lehrerleut") In der Folge kommt es zu einem verschärften Gegensatz zwischen "Eigentümlern" und "Gemeinschaftlern" und zur Spaltung: Erstere wandern, zu den Mennoniten ab und werden dort assimiliert. 1870: Zar ALEXANDER II hebt die Privilegien der Hutterer auf. Ihnen droht Teilnahme am Militärdienst und die Einführung russischsprachiger Schulen.
1870, 1874-79: Alle Hutterer aus den fünf Dörfern wandern nach Dakota/USA aus und gründen den Bonne Homme-Bruderhof. Von den 1265 Ausgewanderten siedeln nur etwa 400 in Gütergemeinschaft (die drei oben genannten Gruppen). Die übrigen lassen sich als private Bauern nieder oder schließen sich den Mennoniten an ("Prärieleute", "Hutterische Mennoniten") Die Landwirtschaft wird zur tragenden Säule der hutterischen Wirtschaft unter Beibehaltung unrentablen Handwerks für den Eigenbedarf. Es kommt zur Aufwertung der Familien, zur Einrichtung von Tagesschulen und zur Übertragung der Erziehungsverantwortung an den Lehrer.
1917/18: Folter und Militärdienst fordern die beiden letzten hutterischen politischen Todesopfer. Hinzu kommt es zu Überfällen, Sabotageakten und Viehdiebstählen durch deutschfeindliche rassistische Amerikaner. Diskriminierung der Hutterer als "Hutterite Huns" etc. in der Öffentlichkeit.
1917/22: Einführung der englischen Schule durch Unterrichtspflicht:
1918 ff: Auswanderung der meisten Hutterer nach Kanada.
1930 ff: Neugründungen von Bruderhöfen in den USA.
1945: Die letzten "Habaner" (Hutterer) werden aus der Slowakei wegen ihres "Deutschtums" vertrieben.
Bis 1961: Die Hutterer zahlen keine Steuern, um den Militärhaushalt nicht mit zu finanzieren.
1977 ff: Eine abnehmende deutsche Sprachkompetenz führt zu einer Reform des Schulwesens.
1982: beschränkende Landkaufgesetze werden in Kanada aufgehoben.
1985: Der Älteste des Crystal Springs-Bruderhofes (Schmiedeleut), Jakob KLEINSASSER, verursacht durch seine liberale Einstellung eine schwere Krise. Anglisierung, Traditionsverlust und eine hohe Abwanderungsquote sind die Folge.

Aus den drei Bruderhöfen von 1877 sind bis heute etwa 550 "Archen" mit mehr als 70.000 Seelen hervorgegangen. Die Hutterer verdoppeln ihre Anzahl alle 15 - 20 Jahre. Ihr Siedlungsbereich umfaßt heute hauptsächlich die kanadischen Provinzen Alberta , Saskatchewan (beide Dariusleut, Lehrerleut) und Manitoba (liberale Schmiedeleut) sowie die US-Bundesstaaten Montana (Dariusleut, Lehrerleut) sowie die Dakotas (liberale Schmiedeleut).

2. Die Hutterische Weltauffassung und daraus resultierende Siedlungsform

Der Analyse liegt das Raummodell "Gesamtmodell der Hutterischen Weltauffassung" von VOLLMAR zugrunde. Zuerst soll auf den Makroraum und seine Auffassung durch die Hutterer insgesamt eingegangen werden, - also das Verhältnis von Hutterer-Innenwelt und "feindlicher Außenwelt", danach auf die Funktion- und Anordnungen- der Gebäude innerhalb eines Bruderhofes im einzelnen. Auf die bipolare diesseitige Raumauffassung der Hutterer, abgeleitet aus ihrem Weltverständnis, ist schon eingegangen worden: "Gut"/"wir" steht dabei gegen "böse"/"Außenwelt". Damit ist aber nur die materielle Welt, "diese Welt" beschrieben. Der innere Raum, - also die Arche im Meer der Sünde, der Bruderhof, muß als Übergangsort verstanden werden auf dem Weg zum Jenseitigen: "Himmi", dem Thron Gottes. Diese dritte Raumkategorie wird, trotz ihrer Überweltlichkeit als real und allgegenwärtig aufgefaßt. Interessant ist, daß die Hutterer, - in der Selbstschau das "Volk Gottes"-, neben der traditionellen Dreierebene in mittelalterlicher Sicht, bestehend, aus Himmel, Erde, Hölle, eine weitere Ebene,- ihre eigene, einfügen. Sie unterteilen "diese Welt" nochmals in "eigene" und "fremde" Räume. Für sie ist "diese Welt" insgesamt schon ein Ort der Verdammnis,- nicht mehr der Bewährung und Entscheidung wie in beispielsweise römisch-katholischer (Heilsmöglichkeit durch Werkgerechtigkeit) oder etwa lutherischer Sicht (Heilsmöglichkeit durch Glauben und Gnade). Die räumliche Weltdistanz, entspringt einem tiefen Mißtrauen gegen die Standhaftigkeit des Menschen, der in der äußeren Welt, die nach hutterischer Sicht des Teufels ist, voller Versuchungen, und Verführungen ist. Deshalb minimieren die Hutterer den Kontakt mit der Außenwelt soweit es geht. Nur zum Arztbesuch etwa fährt man ins "Stadl" oder um Geschäfte zu machen. An dieser Stelle sei aber darauf hingewiesen, daß diese Abschottung aus der Kenntnis der menschlichen Seele und ihren Bedürfnissen entspringt und nicht etwa einer grenzenlosen Naivität oder gar totalitären Beweggründen, bedenkt man die Verbotsseite: Hutterer sind tolerant und legen allergrößten Wert darauf, daß die Taufe und das Bekenntnis zur hutterischen "Kirche" aus freien Stücken und tiefster Überzeugung geschieht. Es geht nicht darum, Gemeindeglieder wegzuschließen oder ihnen etwas vorzuenthalten. So wird es nicht nur geduldet, sondern u. U. sogar gewünscht, daß zumindest die jungen Männer vor der Taufe, welche i. d. R. mit 21 Jahren stattfindet, sich mit der Außenwelt bekannt machen und mit ihr und ihren Verlockungen auseinandersetzen. Dazu gehören für die Jugendlichen außerordentliche Stadtgänge, der private Besitz von Statussymbolen wie Autos, Uhren, Musikinstrumenten, Radios o.a. Diese "Entgleisungen" werden von der Gemeinde toleriert, da sie das Individuum läutern sollen und vor späteren Gedanken an Versäumtes bewahren. Die "Halbstarken" sollen sich rechtzeitig "die Hörner abstoßen", um dann als vollwertiges Gemeindeglied, mit aller Verantwortung, aufgenommen zu werden. Der Zustand vor der Taufe ist quasi noch der der kindlichen Unmündigkeit. Seit dem Zeitpunkt der Taufe ist das Individuum für seine Taten auch voll verantwortlich. Erst jetzt kann geheiratet und am Gemeindeleben der Erwachsenen teilgenommen werden.

II. Räume

1. Der "Himmi" als Ziel allen hutterischen Strebens

Ziel allen hutterischen Strebens ist die Erlangung des ewigen Lebens, des jenseitigen Seelenheils. Die Geworfenheit in das irdische Leben, in "diese Welt", wird als gottgewollt hingenommen und ertragen. In hutterisch-biblischer Vorstellung, ist der "himmi'' der Thron Gottes, die Erde sein Schemel. "Diese Welt" mit ihrer Sünde und Verderbnis steht dem Himmel gegenüber. Der Himmel ist zwar ein, nicht sichtbarer Raum, in dem das Reich Gottes schon verwirklicht ist, unzugänglich für die Lebenden und verschlossen bis zum Jüngsten Gericht, er ist für Hutterer aber mehr als nur ein ideeller Raum. Er existiert für sie so wirklich wie "diese Welt". "Diese Welt" existiert auch nur aus der Gegenüberstellung mit der Sphäre des Himmels. Neben den Bruderhöfen,- Ausnahmebereiche im Meer der Sünde -, und "der Welt" ist der Himmel einer von drei Raumkategorien im hutterischen Denken.

2. Der Bruderhof als Mittelpunkt hutterischen Lebens

Die Bruderhöfe sind der soziale und diesseitige Mittelpunkt des hutterischen Lebens. Es kann geschätzt werden, daß ein Hutterer weit mehr als 95% seiner Lebenszeit im Schutze der "Archen" bzw. auf den Ländereien verbringt. "Stadlgänge" werden nur in Ausnahmefällen gemacht. Es müssen schon triftige Gründe für einen Hutterer vorliegen, um donnerstags (und nur dann) die Stadt aufzusuchen. Meist sind es die Männer, die dort Geschäftliches zu erledigen haben.

Die Vorstellung von den Bruderhöfen, als Archen im, "Meer der Sünde" zeigt vor allem zweierlei: Erstens das Schutz-, Sicherheits- und Abgrenzungsbedürfnis und zweitens den autarken Anspruch, der klosterähnlichen Siedlungen. Das erstreckt sich nicht nur auf ökonomische, sondern in besonderem Maße auf geistige Abgrenzung. In diesem Falle ist es sogar zulässig, "geistig" und "geistlich" als Synonyma zu sehen, da das Geistesleben der Hutterer ein ausschließlich geistliches ist, "autark" heißt in diesem Zusammenhang: Die Hutterer legen Wert darauf, sich selbst mit dem. Lebensnotwendigen zu. versorgen: Weltliches Brot wird selbst hergestellt, geistliche Erbauung erfolgt durch die Heilige Schrift und die anderen kanonischen Texte der Hutterer, welche durchweg aus dem (literarisch-geistlichen) "goldenen Jahrhundert", dem 17. Jh, stammen. Damals sind die meisten Lieder entstanden, die auch heute noch regelmäßig gesungen werden.

Hierzu drängen sich Begriffe wie "konservativ" oder "rückwärtsgewandt" auf. Auch hier geht diese weltliche Lexik ins Leere: "Konservativ" leitet sich etymologisch aus (lat.) "consenrare" erhalten, ab. Der hutterische "Konservatismus" geht aber über die landläufige Bedeutung hinaus: Hier geht es um einen maßvollen Seinszustand, der die Seele und ihr Heil nicht gefährdet. Erich FROMM hat in "Haben oder Sein" auf die Seinskomponente der hutterischen Lebenswelt hingewiesen. Es geht also nicht darum, einen einmal erreichten Gesellschaftszustand zu konservieren, sondern man will so sein, wie es die Heilige Schrift in der hutterischen Interpretation verlangt: Antiweltlich. Eine "gesellschaftliche" Entwicklung ist von daher von vornherein ausgeschlossen, weil es für sie keine "Gesellschaft" in unserem Sinne gibt, an der sie teilhaben, auch wenn sie mit "der Welt" Geschäfte treiben. Von "konservativ" zu sprechen ist nur mögliche wenn es die Alternative dazu, das Fortschreiten, den Wandel, gibt. Einen Fortschritt gibt es für Hutterer allenfalls im technischen Sinne: Moderne Maschinen sind auf den Höfen gebräuchlich, solange sie das "biblische Sein" nicht antasten und dem Wohl der Gemeinschaft dienen, werden sie angeschafft. Diese Funktionalität spiegelt sich auch, in der Siedlungsstruktur wider: Alles dient der zeitlichen Notdurft. Was über diese Askese hinausgeht, gibt es auf den Höfen nicht. Trotzdem werden die leiblichen Grundbedürfnisse des Menschen erfüllt: Erlaubt sind Kuchen ("Schutenhonkelich", "Käspei") und Kaffee (Aufgußkaffee), Fleisch und alkoholische Getränke ("Blemelwa", selbstproduziert). Aber alles in Maßen und rationiert, Lust und Luxus gelten als Gefahr für das Seelenheil. Trotzdem ist ein geregeltes Eheleben die Norm, gemäß des biblischen Auftrags "seid fruchtbar und mehret Euch" (I Mose 1, 22). So sind denn die Familien sehr groß. Mehr als zehn Kinder pro Paar sind keine Seltenheit, neun Kinder pro Frau ist der augenblickliche Durchschnitt. Nach hutterischer Auffassung ist allerdings die Gemeinschaft wichtiger als die Unterteilung in Familien. Die Kinder werden eher vom Lehrer denn von den Eltern und eher gemeinsam denn von Einzelpersonen erzogen.

3. Das Agrarland als Sicherheitsabstand zur "Welt"

Der innere soziale Raum, die "Gmah"/Gemeinde wird noch umgeben vom Wirtschaftsland des Bruderhofes. Dieses Land ist in der dreiteiligen Raumwahrnehmung der Hutterer unbedingt der Sphäre des Bruderhofes zuzuordnen. Hutterer sind reich und vermögend. Sie besitzen riesige Ländereien, von denen die säkularen kanadischen oder amerikanischen Landwirte nur träumen können: Ländereien mit 3000 ha sind keine Seltenheit. Der wirtschaftliche Erfolg der Hutterer erklärt sich aus mehreren Faktoren: Erstens ist schwere körperliche Arbeit für sie ein Gebot Gottes - ja geradezu ein Gottesdienst -, denn so steht es im Alten Testament (1 MOSE 3). Sie sind nicht nur außerordentlich geschickt, sondern auch fleißig, Arbeit ist für sie eine Ehre und schwere Strafen bestehen etwa nicht aus "Strafarbeiten", sondern aus einem Arbeitsverbot. Da alle arbeiten, bedeutet das für den Delinquenten einen zeitweisen Ausschluß aus der Gemeinde, also aus dem allumfassenden Sozialverband. Für gemeinschaftsgewöhnte Hutterer ist das ein unvorstellbarer Zustand,- denn ein Hutterer ist i. d. R, niemals allein. Zweitens kostet die Hutterer die Arbeitskraft nichts und sie können in einer ausgewachsenen Kolonie, die mit 125 Seelen kurz vor der Teilung steht, mit 50-60 helfenden Männern rechnen! Das zeigt, daß die Hutterer, die keineswegs technikfeindlich sind, solange die Technik keine außenweltlichen Werte transportiert, in gänzlich anderen Dimensionen rechnen können als benachbarte säkulare Farmer. Daraus folgt drittens, daß es nicht nur zu einer enormen Finanzakkumulation kommt, sondern daß auf größtmöglichem Ackerland die modernsten, effektivsten Maschinen zum Einsatz kommen können. Es wird also ein ökonomischer Kreislauf angestoßen, der zum weltlichen Erfolg verdammt ist, und das paradoxerweise, obwohl den Hutterern wirtschaftlicher Erfolg nichts bedeutet. Er stellt sich eben als Folge der gottgerechten Arbeit ein (Lukas 19, 11-28; Matthäus 25, 14-30). Auch hier drängt sich die Parallele zur Wirtschaftsweise der Bettelorden im Mittelalter auf, welche nach drei, vier Generationen aber meist ob ihres erwirtschafteten Reichtums verweltlichten. Das umliegende Agrarland der Hutterer ist somit nicht nur zeitliche Arbeitsstätte und Lebensgrundlage, sondern auch eine wichtige räumlich-geistige Sicherheitszone zur Außenwelt. Mit fortschreitendem Alter der Kolonie kann immer mehr Land erworben werden, so daß sich dieser Sicherheitsabstand ständig relativ und absolut vergrößert. Auch wird das "Huttererland" insgesamt also die Fläche, die von den Bruderhöfen aus in Nordamerika bewirtschaftet wird, immer größer: Die Geburtenrate ist eine der höchsten der Welt, so daß sich die Hutterergesamtbevölkerung alle 15-20 Jahre verdoppelt. Da alle Kolonien ab einer bestimmten Größe geteilt werden, also eine neue Tochterkolonie gegründet wird, müssen immer weitere Regionen erschlossen werden. Es gibt bereits Hochrechnungen, wann jeder fünfte Kanadier ein deutschsprechender Hutterer sein wird...

4. "Die Welt" als Gegenpol zum eigenen Bruderhof

Es muß getrennt werden zwischen, "der Welt" als Schöpfungsganzem, wie es die Heilige Schrift versteht sowie der hutterischen Auffassung von der (Außen-) "Welt", dem sie umgebenden nicht-hutterischen Raum: Während, die Bruderhöfe in eigener Sicht der Dinge "Archen im Meer der Sünde", durch die Weltdistanz relativen Schutz vor den Verführungen der Außenwelt bieten, sind sich die Hutterer trotzdem der Möglichkeit der Versuchung innerhalb der "Gmah"/Gemeinde bewußt. Das zeigt besonders die Frühzeit der hutterischen Geschichte in Europa, als es zu häufigen Korruptionen des Gütergemeinschaftsideals kam. Da sich die Hutterer als auserwähltes Volk Gottes betrachten, ist den Gemeindegliedern bei Befolgung der Glaubensgrundsätzen innerhalb des eigentlichen Gemeinderaumes, also den Bruderhöfen, eine bestimmte Heilsgewißheit inne: Das Leben außerhalb gilt per se als verderblich. Die Menschen dort stehen unter der Regentschaft des Satans und sind allenfalls "Maulchristen", die sich zwar offiziell zu Gott bekennen, dann aber doch nur Böses im Schilde führen. Kenntnisse der Außenwelt basieren, bei gegenwärtig, völliger Abstinenz moderner Massenkommunikationsmitteln, auf zwei Erfahrungen: Erstens der Erfahrung der Verfolgung im 16. Jahrhundert durch andere christliche Konventionen, Landesherren, und "Weltmenschen" allgemein. Dieses Bewußtsein wird schriftlich und mündlich fixiert und tradiert. Zweitens sind die Erfahrungen mit der heutigen -"englischa"- Außenwelt zu nennen. Das sind die oberflächlichen Eindrücke, die sich bei den Hutterern beim unvermeidlichen "Stadlgang" einprägen oder wenn die "Welt" in die Kolonie einbricht: Sei es durch Besucher, Handelsvertreter, Wissenschaftler oder die staatlichen Lehrer. Ein wichtiges Abgrenzungskriterium ist, neben dem Bekenntnis, der Kleidung und der topographischen Verortung der Fremden im hutterischen Raummodell die Sprache: Deutsch, bzw. das frühe Neuhochdeutsch mit starkem allemanisch-bajuwarischem Dialekteinschlag (oberdeutsche Dialekte) ist nach wie vor für die Hutterer eine heilige Sprache, die Sprache der Heiligen Schrift und der Vorväter. Zwar sind die meisten von ihnen mittlerweile zweisprachig geworden, - ein Tribut an die homogene englischsprachige Umgebung und den englischsprachigen Schulunterricht,- Umgangssprache ist aber weiterhin eine linguistische Gemengelage süddeutscher Dialekte mit der deutschen Reformationssprache, weiche mit vielen Lehnwörtern der durchwanderten Sprachgebiete angereichert ist. So finden sich in ihrem aktiven Sprachschatz sowohl slawische (tschechische, slowakische, russische), romanische (rumänisch) als auch türkische Elemente. Neuerdings überwiegen freilich englische Entlehnungen, die sich besonders auf technische Neuerungen beziehen, die es zur Zeit LUTHERs noch nicht gegeben hat. Flugzeuge sind zwar noch "Luftschiefe" also dialektal eingefärbte deutsche Komposita, die Bestandteile eines Automotoren können aber nur noch auf Englisch erläutert werden. Es muß nicht gesondert erwähnt werden, daß die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Englisch identisch ist mit der Grenze zwischen der "Arche" und ihrem "Fahrwasser" (hutterisches Agrarland) sowie der Außenwelt. Auch wenn die Hutterer keinen Wert auf höhere Bildung legen ist der Vergleich zum mittelalterlichen Kloster, diesmal auf der Sprachebene, angebracht: Das Latein der Mönche ist vergleichbar mit dem archaischen "Süddeutsch" der Hutterer: Es dient der Abgrenzung zur feindlichen Außenwelt. Schon an der Sprache ist der Unterschied von "Schof" und "Welt" zu erkennen. Der antiurbanistische Zug im Weltbild der Hutterer macht die städtischen Siedlungen der "Englischa" zum Sündenbabel par excellence. Hier findet alles statt, was Hutterer ablehnen und vor dem sie auf der Flucht sind: Die Gottesferne manifestiert sich nicht nur in der Nicht-Erfüllung von Gottes Geboten, sondern den Städter kennzeichnet auch sein Hang zu Habgier, zum Fluchen, zur Hurerei, zum Neid, zur Maßlosigkeit usw. In der Außenwelt, besonders in den Städten, regiert nach hutterischer Weltsicht der Satan höchstpersönlich. Die radikale Verurteilung des Städtischen erinnert an die ROUSSEAUsche Zivilisationskritik, wobei diese nicht metaphysisch motiviert war. Aber auch bei ROUSSEAU findet sich die Grundfigur, daß in der Stadt, also dem Kristallisationspunkt der Zivilisation, der Agglomerationsmittelpunkt der gesammelten, menschlichen Schlechtigkeiten, liegt. Damit hören, die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf, alles weitere ist, bei gleicher Zielsetzung, zufällig.

5. Innere baulich-räumliche Differenzierung der Bruderhöfe

Auch das Territorium des Bruderhofes läßt sich noch einmal nach dem Grad der "Zentralität" abstufen: Der innerste soziale Raum beschränkt sich auf all die Gebäude, die nicht der wirtschaftlichen, allenfalls der Erziehungssphäre dienen und somit nicht alltäglich, sondern "feiertäglich herausgehoben" sind. Die Wirtschaftsgebäude mit den Tierstallungen, den Teichen, Gemüsegärten, etc. müssen, zwar u. U. auch am Feiertag bestellt werden (Fütterung, Melken), aber an der Stellung der Gebäude, in der Mitte diejenigen für den unmittelbaren menschlichen Bedarf (Wohnen, Essen, Erziehung, Gottesdienst), darum in einigem Abstand gruppiert die Wirtschaftsgebäude, also Gebäude mit sekundärer Funktion, ist eine Abstufung ihrer Bedeutung klar zu erkennen: Der Mittelpunkt einer Huttererkolonie ist der Kirchraum. Da Hutterer aber keine eigenen Kirchbauten kennen, ist entweder das zentrale Gemeinschaftshaus, in dem auch gegessen wird, oder eines der beiden Schulhäuser (deutsche oder englische Schule), der Mittelpunkt. Darum gruppieren sich in Nord-Südausrichtung die Küche, die Unterkunftshäuser, der Kindergarten ("kleina Schul"), die Werkstätten, Garagen, Wirtschaftsgebäude und Ställe sowie Vorratsräume. VOLLMAR (1995, S. 29) hat auf die Bedeutung der Nord-Südausrichtung als der axis mundi, an der sich auch Klosterbauten zu Orientieren haben, hingewiesen. Auch die Anordnungen, der Wege im Verhältnis zu den Gebäuden sind religiös motiviert: Sie sind gerade, direkt und zielstrebig, also an einer göttlichen Ordnung orientiert und nicht an einer krummen, weltlichen. Wichtig sind zur Selbstversorgung außerdem der große Gemüsegarten und ein Gewässer. Das erinnert wiederum an mittelalterliche Klöster, besonders die des Zisterzienserordens, welche grundsätzlich an fließenden Gewässern angelegt wurden, um Trink- und Wirtschaftswasser zu haben und auch um Fischzucht betreiben zu können. Diese topographische Lage sowie die Masse der Wirtschaftsgebäude belegen den Autarkieanspruch der einzelnen Kolonien. Eine herausragende Rolle kommt der Kindererziehung zu. Auch die Schulerziehung spielt eine wichtige Rolle, allerdings ist sie dahingehend funktionalisiert, als daß alle Bildungsinhalte und Fähigkeiten in Hinsicht auf das Glaubensziel gelehrt werden. Schließlich werden junge Hutterer nicht in bürgerlichen Berufen, sondern in der Haus- und Landwirtschaft oder im Handwerk bestehen müssen. An intellektuellen Berufen findet sich nur der Lehrberuf. Alle Geistlichen sind Laien und üben ihr Amt zusätzlich aus. Auch Funktionen wie "Säckelwart"/Haushalter werden nicht als Berufe, sondern nebenbei ausgeübt. Die hohe Bedeutung der Lehrfunktion drückt sich in den separaten Schulgebäuden und im abseits gelegenen Lehrerwohnhaus aus. Auch einige Handwerksberufe haben ihre eigenen Gebäude, so die Schmiede, die mechanische Werkstatt, das Backhaus und das Melkhaus. Daraus kann aber, trotz eines hohen Grades an Arbeitsteilung, nicht auf Spezialistentum geschlossen, werden: Alle männlichen Hutterer beherrschen in der Regel mehrere Handwerksberufe, können also ebensogut einen Traktorenmotor reparieren als auch Schweine schlachten oder Seife sieden. Die Gebäude sind zwar räumlich voneinander getrennt, andererseits ist aber gerade ihre relative räumliche Nähe zueinander bemerkenswert: In ihnen drücken sich die Bedürfnisse und Ansprüche einer arbeitsteiligen autarken Agrargesellschaft aus, welche nur gleichwertige Arbeit kennt und durch einen hohen Grad an Universalismus gekennzeichnet ist. Einerseits existiert eine deutliche Geschlechter-, Alters- und Funktionstrennung,- das drückt sich in den räumlich abgegrenzten Häusern für Kinder und Jugendliche aus (Kindergarten, Schulhäuser), in der Großküche, der Bäckerei und dem Garten (Frauenarbeit),- andererseits wird diese Binnendifferenzierung, - welche keinesfalls mit einer Wertung verschiedener Arbeitsbereiche verbunden ist -, bei Bedarf aufgehoben: So arbeiten zur Erntezeit Frauen und Kinder auf den Feldern mit, während u. U. auch Männer in der Küche kurzfristig den Frauen unterstellt werden. Die Kargheit hutterischer Architektur, also die Reduktion, auf das rein Funktionale, entspricht exakt dem Bildnis und Luxusverbot. Architektonische Ausgestaltung würde dem Auge "gelusteln", es ablenken und mit weltlicher Schönheit versuchen zu verführen. So ist auch die Verwendung einfachster Baumaterialien, Holz für die Wohnhäuser, oftmals Wellblech für die Wirtschaftsgebäude, zu erklären. In einer Gütergemeinschaft gibt es kein Privateigentum. Die Hutterer leiten daraus ab, daß es keinen privaten Raum zu geben habe. Das Individuum und seine Bedürfnisse sollen sich dem Gemeinschaftsbedürfnis unterordnen. Da alle immer das gleiche tun, ist tatsächlich auch kein Bedarf und somit Raum an Privatsphäre vorhanden. Die Leistung des Individuums besteht darin, als Teil der Gruppe seiner weltlichen Funktion nachzukommen sowie sein Seelenheil zu retten. Familiäre Bindungen sind zwar überall ersichtlich, werden aber nicht als Keimzelle für eine größere soziale Einheit gesehen (diese wird eh nicht angestrebt), sondern allenfalls als biblisch vorgegeben anerkannt. So werden nur zwei private Räume zugelassen: Erstens das elterliche Schlafzimmer und zweitens, als kleines Zugeständnis an die weltlichen Gelüste, eine kleine Kiste mit privaten Gegenständen wie Andenken, Toilettenartikeln, Photos o. ä. Diese Kiste wird allerdings nur den Jugendlichen zugestanden und am Tage der Taufe dem Ältesten übergeben.

Fazit

Die pazifistischen, weltabgewandten Hutterer in Nordamerika haben es geschafft, ihre Weltanschauung einer bipolaren Welt in ihren dörflichen Siedlungen in der Prärie des Westens zu verwirklichen. Nicht nur der große räumliche Abstand zur "Welt", sondern auch die Gestaltung und Anordnung ihrer Siedlungen stehen in Einklang mit ihren Glaubensgrundsätzen. Somit können Siedlungsform und Baugestalt aus ihrem Weltbild abgeleitet werden, als auch von der Siedlungsstruktur auf ein solches Weltbild geschlossen werden kann. Dabei erinnern die Hutterer in vielem an Glaubensgrundsätzen und baulichen Ausdrucksformen der mittelalterlichen Bettelorden, z.B. der Zisterzienser. Das beginnt beim "ora et labora"-Gebot des BENEDIKT von Nursia und reicht bis zur Baugestalt: Die Kargheit und reine Funktionalität ist eine deutliche Parallele, welche sich aus dem Armutsgebot für beide Bewegungen ableiten läßt. Auch der Verzicht auf prunkvolle Kirchenbauten gehört hierher. Die geographische Raumwirksamkeit eines bipolares Weltbild ist kaum deutlicher vorzuführen als anhand der Hutterersiedlungen in Nordamerika. Die Konsequenz und Radikalität der christlichen Fundamentalisten spiegelt sich in ihrer dreiteiligen Raumwahrnehmung und -gestaltung wider. In der gänzlich jenseitigen Ausrichtung ihres Denkens und Handels ist es fast unmöglich, sie als "Utopisten" zu bezeichnen. Der passivistische Zug ihres Glaubens unterstreicht dies.

Helge Martens

Literatur:

BRAUNFELS, W. (1991): Abendländische Stadtbaukunst. Herrschaftsform und Baugestalt Köln.

FROMM, E.(1988): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München.

HAYDEN, D. (1976): Seven American Utopias, The Architecture of Communitarian Socialism 1790-1975. Cambridge, London.

HILDEBRAND, B. (1993): Erziehung zur Gemeinschaft, Geschichte und Gegenwart des Erziehungswesens der Hutterer. Pfaffenweiler.

HOLZACH, M. (1992): Das vergessene Volk. Ein Jahr bei den deutschen Hutterern in Kanada. München.

ders. (1979): Hutterer: "Jedr gibt, os'r konn, und kriegte wos'r braucht" In: Geo Nr. 8. S. 74-104.

HOSTETLER, J. A.; HUNTINGTON, G. E. (1967): The Hutterites in North America, New York, Dallas, Chicago.

VOLLMAR, R. (1995): Wohnen in der Wildnis. Siedlungsgestaltung und Identität deutscher Auswanderer in den USA. Berlin.