Die christliche Zeitrechnung

62. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 27.05.1998 von Stefan Nehrkorn

Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß sich jene Zeitrechnung, die Christus in die Mitte der Zeit rückt, just in der Zeit der Aufklärung endgültig durchsetzt - in einer Zeit also, die sich in vielen Bereichen von christlichen Überlieferungen loszulösen begann. (Hans Maier)



Inhalt:

Die christliche Zeitrechnung

Die Entstehung der christlichen Zeitrechnung

Grundlagen des christlichen Kalenders

Gegenzeitrechnungen und Gegenkalender




Die christliche Zeitrechnung (nach: Hans Maier: Die christliche Zeitrechnung, Freiburg i. Br. 1991, S. 11 ff)

Im folgenden geht es darum, die Entstehung der christlichen Zeitrechnung zu schildern, wie sie sich in allmählicher Ablösung von jüdischen und römischen Zählungen seit dem 5. Jahrhundert entwickelt hat. Ein Blick auf die Anfänge des christlichen Kalenders schließt sich an. Anschließend wird auf die Gegenzeitrechnungen und Gegenkalender eingegangen, wie sie seit der Französischen Revolution in steigendem Maß, jedoch bis heute ohne durchschlagenden Erfolg entwickelt worden sind. Sie zeigen, daß die christliche Zeitrechnung immer wieder angefochten wurde, daß die "Herrschaft über die Zeit" nie unbestritten war.

Die christliche Zeitrechnung stellt eine Zeit in die Zeit hinein. Sie zählt nicht von einem Anfang, sondern von einer Mitte her: Ein Leben, das Leben Christi, teilt die Weltgeschichte in ein Vorher und Nachher, und dementsprechend zählen wir die Jahre und Jahrhunderte vor und nach Christus. Mit dieser Übung begannen im 5. und 6. Jahrhundert die Mönche Victorius von Aquitanien und Dionysius Exiguus in Rom, wobei der erste die Passion, der zweite die Geburt Christi zugrundelegte: "(Es ist vorzuziehen, die Menschwerdung Jesu Christi zur Grundlage der Zeitrechnung zu machen,) damit der Ausgangspunkt unserer Hoffnung um so klarer hervortrete und die Ursache der Wiederherstellung des Menschengeschlechts, das Leiden unseres Erlösers, um so sichtbarer erstrahle" (Dionysius Exiguus, 525 n. Chr.). In den folgenden Jahrhunderten trat die Zählung der Jahre nach Christus allmählich in den Vordergrund und setzte sich zu Beginn der Neuzeit endgültig gegen die alte Zeitrechnung "seit Erschaffung der Welt" durch. Langsamer als die Berechnung der Jahre nach Christus (die sogenannte prospektive Zeitrechnung) entwickelte sich die retrospektive Zeitrechnung, also die Zahlung der Jahre vor Christus: obwohl sie bereits im frühen Mittelalter auftaucht, wird sie doch erst seit der Aufklärung üblich. Voll ausgebildet tritt uns also die christliche Zeitrechnung in ihren beiden Zählformen erst seit dem 18. Jahrhundert entgegen; seit dieser Zeit freilich verbreitet sie sich unaufhaltsam und wird im 19. und 20. Jahrhundert zur allgemein üblichen Zeitberechnung in der Welt - als Grundlage für Geschichtsschreibung, Verkehr und Handel selbst dort gebräuchlich, wo - wie in China, im Judentum oder im Islam - andere Zählsysteme gelten.


Die Entstehung der christlichen Zeitrechnung

Es fällt auf, daß eine Rechnung der Zeit "nach Christus" sich erst verhältnismäßig spät entwickelt hat. Die Urkirche und die frühe Christenheit dachten noch nicht daran, die tägliche Zeit am Jahr der Geburt oder des Todes Christi zu messen. Ein Gefühl dafür, daß Jesu Werk ein Maßstab sei auch für das allgemeine Geschehen in der Welt, war erst in Ansätzen vorhanden. Daher bestand auch kein Bedürfnis, eine gänzlich neue, eine christliche Zeitrechnung einzuführen. Und so benutzten die Christen neben der biblizistischen Weltära des Judentums (seit Erschaffung der Welt) ganz unbefangen auch die damals üblichen anderen Zeitrechnungen: die römische Ära "ab urbe condita", die Datierung nach Konsulatsjahren und kaiserlichen Regierungsjahren, ja sogar die diokletianische Ära, obwohl sie an einen der heftigsten Christenverfolger erinnerte. Erst allmählich begann sich ein christliches Zeitbewußtsein zu entwickeln - ein Bewußtsein der Besonderheit, der singulären Bedeutung des Christusgeschehens. Von hier eröffnete sich die Möglichkeit, die gesamte Weltgeschichte in eine christozentrische Ordnung zu bringen - angefangen von der Schöpfung der Welt und der Erwählung des Volkes Israel, der Inkarnation und der Passion Christi über die Zeit der Kirche bis hin zur neuen Schöpfung am Ende aller Tage. Die Rede von der Königsherrschaft Christi war geeignet, den Absolutheitsanspruch irdischer Reiche zu relativieren. Sie befreite die Christen vom Druck tagespolitischer Abhängigkeiten. So konnte Christus als ewiger König den vergänglichen irdischen Herrschern gegenübergestellt werden.

Das mußte auf längere Frist zu Konsequenzen auch im Zeitverständnis der Christen führen. Der wachsende Einfluß christozentrischer Betrachtungsweisen läßt sich vor allem an den Datierungen der Märtyrerakten seit der Mitte des 2. Jahrhunderts verfolgen. Hier treten neben die alteingeführten Zählungen, nach Herrscherjahren immer häufiger Zeitangaben, die sich unmittelbar auf Christus beziehen. So heißt es im Martyrium des hl. Polykarp: "Der selige Polykarp erlitt den Martertod am zweiten des Monats Xanthikus, am 23. Februar, an einem großen Sabbat, um die achte Stunde. Er wurde ergriffen von Herodes unter dem Oberpriester Philippus von Tralles, unter dem Prokonsulat des Statius Quadratus, unter der ewig währenden Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus. Ihm sei Ruhm, Ehre, Herrlichkeit und ewiger Thron von Geschlecht zu Geschlecht. Amen." Der Bericht über das Martyrium des hl. Apollonius endet mit folgender Datierung: "Es litt aber der dreimal selige Apollonius der Asket nach römischer Berechnung am 11. vor den Kalenden des Mai, nach asiatischer aber im achten Monat, nach unserer Zeitrechnung unter der Herrschaft Jesu Christi, dem Ehre sei in alle Ewigkeit." Gewiß ist diese Bezugnahme auf die Herrschaft Christi noch keine christliche Jahres- und Zeitrechnung im förmlichen (technischen) Sinne; aber sie ist doch mehr als nur eine theologische Besiegelung "profaner" Datierungen. Der temporale Bezug ist deutlich; die Königsherrschaft Christi überwölbt die Datierungen nach weltlichen Herrscherjahren. Insofern kann man durchaus von einem "neuen Anfang" in der Zeitrechnung sprechen. Der Gedanke der Königsherrschaft Christi beginnt "historische" Konsequenzen zu zeitigen. Dabei ist noch folgendes zu bedenken: Die Berichte über das Leiden und den Tod der Glaubenszeugen wurden in den christlichen Gemeinden jeweils an den Jahrestagen des Martyriums verlesen. Das Gedenken an die Märtyrer bildete die älteste Schicht kirchlicher Heiligenfeste. Aus den Gedenktagen entstand später der Heiligenkalender. Die Texte über die Märtyrer - z. T. auf Gerichtsprotokollen fußend - gingen so im Lauf der Zeit ins Gedächtnis der Kirche ein. Sie wurden zum Allgemeinwissen in der Christenheit. Damit gehörte auch der Verweis auf die Herrschaft Christi zum allerorts bekannten Traditionsgut; wir dürfen damit rechnen, daß er überall dort gegenwärtig war, wo in Gottesdiensten der Märtyrer der Kirche gedacht wurde. Trifft das zu, so wäre das Argument, mit dem im Jahr 525 der skythische Abt Dionysius Exiguus die Abkehr von der Zahlung nach der diokletianischen Kaiserära proklamierte, in der Tradition gut begründet. Dionysius, der im Auftrag von Papst Johannes l. die Osterzyklen neu berechnete, führte gegen die dokletianische Ära ins Feld, daß sie die Erinnerung an einen gottlosen Christenverfolger wachhalte - ausgerechnet bei der Suche nach dem richtigen Ostertermin müsse man der Zeitrechnung eines Tyrannen folgen! Da sei es vorzuziehen, meinte er, daß man das Zeitmaß der Jahre (annorum tempora) von der Menschwerdung Jesu Christi nehme, "damit der Ausgangspunkt unserer Hoffnung um so klarer hervortrete und die Ursache der Wiederherstellung des Menschengeschlechtes, das Leiden unseres Erlösers, um so sichtbarer erstrahle". Der Gedanke war nicht neu: bereits 75 Jahre früher hatte der Mathematiker Victorius von Aquitanien eine Ostertafel entwickelt, die neben einer Zahlung nach Konsuln eine Zeitrechnung nach Christi Passion enthielt. Offensichtlich war die Zeit - 300 Jahre nach dem ersten Auftauchen von Datierungen nach Christus und fast 150 Jahre nach der konstantinischen Wende - reif für eine grundsätzliche Neubestimmung der Zeit. Das frühe Christentum, der Herkunft aus dem Judentum noch nahe, hatte sein Zeitverständnis zuerst im Horizont biblischer Überlieferungen gefunden. Später kamen hellenistische, römische und regionale Zeitorientierungen hinzu. Dann trat die alles beherrschende Beziehung auf Christus immer stärker in den Vordergrund - zunächst theologisch, als Relativierung römisch-kaiserlicher Selbstbezogenheit, als Hinweis auf den einzigen Herrscher, der diesen Namen verdiente, Christus; dann auch historisch, als Ansage einer neuen, nach ihm benannten Zeit.

In der Entstehung der christlichen Zeitrechnung spiegelt sich eine veränderte Haltung der Christen zur "Welt". War diese ihnen anfangs fern, fremd und gleichgültig, so beginnt sie mit der dogmatischen Festigung des Christentums seit dem 4. Jahrhundert und mit der Entstehung einer christlichen Gesellschaft in Ost- und Westrom immer wichtiger zu werden. Das Christentum wird, bildlich gesprochen, schwerer, es sinkt tiefer in die Verhältnisse ein. Wie auf die Welt, so läßt es sich auch stärker auf die Zeit ein. Und so bewegt es sich bald nicht mehr ausschließlich in der überlieferten "Zeit der anderen" - es schafft sich seine eigene Zeit. Genauer: das in ihm von Anfang an vorhandene Zeitbewußtsein löst sich von den herkömmlichen Mustern und entwickelt seine eigene Prägung: in einer neuen Zeitrechnung ebenso wie in der Neugestaltung des Jahres; in der Vergegenwärtigung der Heilsereignisse ebenso wie in den Festen der Märtyrer und Heiligen.


Grundlagen des christlichen Kalenders

Als das Christentum sich in der jüdischen, römischen und außerrömischen Welt ausbreitete, stieß es auf andere Zeit- und Zählsysteme. Sie waren, wie alle kalendarischen Ordnungen, aus natürlichen und historischen Elementen zusammengesetzt. Die zyklischen Zeitordnungen lehnten sich an die Bewegungen von Sonne und Mond an (Tag, Monat, Jahr) oder entstanden durch religiöse und soziale Vereinbarung (Woche). Daneben entwickelten sich lineare Zeitordnungen, die längere Abläufe (Aren, Perioden) umfaßten und aus denen im Lauf der Zeit die Vorstellung einer unumkehrbaren Geschehensfolge (Geschichte) erwuchs. Das Christentum drang in beide Zeitsysteme - die in den alten Kalendern eng verwoben waren - ein und veränderte sie; es nahm jedoch auch wichtige Elemente aus ihnen in die eigene Geschichte mit. So sind bis heute im christlichen Kalender natürliche und geschichtliche Ordnung ineinander verschränkt - und das Kirchenjahr bringt religiöse Gedenktage und Naturzeiten miteinander in Verbindung.

Der junge Trieb christlicher Zeitauffassung entfaltete sich zunächst am Spalier der jüdischen Jahresordnung. Christen wie Juden gliederten die Monate nach dem auch in älteren vorderorientalischen Kulturen bezeugten Siebentageszyklus. Ein Tag in der Woche galt als Fest- und Ruhetag. Die jüdische Woche war nicht nur in judenchristlichen Gemeinden in Übung, sie fand auch Eingang in den heidenchristlichen Gemeinden Griechenlands und Kleinasiens. Von hier drang sie im Lauf der Zeit nach ganz Europa vor. Es ist erstaunlich, daß gerade eine nicht-naturhafte, auf Konvention beruhende Zeitspanne, die Woche, ein so beständiges Element des abendländischen Kalenders darstellt - sie ist bis in die Neuzeit hinein nicht grundsätzlich angefochten worden. Erst die Französische und später die Russische Revolution experimentierten mit Dekadengliederungen des Monats - freilich ohne dauerhaften Erfolg, da die "Ruhe am siebten Tag" inzwischen zum Standard des Arbeitslebens in der zivilisierten Welt gehörte.

In der christlichen Woche jüdischer Herkunft lebte freilich auch heidnisches Traditionsgut weiter. Denn diese Woche war im 2. und 3. Jahrhundert durch die griechisch-römische Planetenwoche hindurchgegangen und hatte deren Tagesbezeichnungen übernommen. Die Römer hatten die Tage der Woche nach den fünf mit freiem Auge sichtbaren Planeten (Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur) sowie nach Sonne und Mond benannt. Den sieben Tagen entsprachen sieben Gottheiten. (Später wurden in der germanischen Welt römische Götter zum Teil durch germanische ersetzt: Donar und Freya gaben dem Donnerstag und Freitag die Namen.)

Auch die Monatsnamen des europäischen Kalenders sind von den Römern geprägt worden: römische Bezeichnungen verdrängten die älteren babylonischen und hebräischen Monatsnamen. In der Zeit der ersten Cäsaren wurden der römischen Monatsreihe die letzten bis heute gültigen Namen eingesetzt, Juli und August - an Caesar und an Octavian Augustus erinnernd. Und endlich gab es seit der auf Julius Cäsar zurückgehenden Kalenderreform (45 vor Christus) ein Julianisches Jahr, das die Grundlage aller modernen Chronologien bildete, ein Sonnenjahr mit 365 1/4 Tagen (alle vier Jahre ein Schalttag), in 12 Monate gegliedert, mit einer siebentägigen Woche und dem Jahresbeginn am l. Januar.

Innerhalb der von der jüdischen Woche und vom römischen Monat und Jahr geprägten Zeitverläufe wurde der Sonntag zum neuen Zentrum des christlichen Kalenders: der erste Tag nach dem Sabbat, anfangs (vor allem in Jerusalem) noch mit diesem verbunden, später verselbständigt und immer mehr in Konkurrenz zur jüdischen Festordnung tretend. Über seine Ursprünge und sein Alter gibt es verschiedene Theorien; so viel scheint aber festzustehen, daß die Sonntagsfeier im Ostergeschehen verankert war; jedenfalls nahmen die Gemeinden auf die Erscheinungen Jesu am ersten Tag nach dem Sabbat Bezug. Die frühen Christen nannten diese Versammlung mit Verkündigung und Eucharistie Herrentag - ein Begriff, in dem das Gedenken an Tod, Auferstehung und Wiederkunft Christi enthalten war. Entscheidend war die regelmäßige Wiederholung dieses Gedenktags - die heutige Liturgie sprechen vom "Wochenpascha" -, seine Einbeziehung in den Jahresrhythmus, in die stetig wiederkehrenden Versammlungen der jungen Christengemeinden. Der Tag der Verherrlichung Jesu sollte regelmäßig begangen und immer wieder vergegenwärtigt werden. Vergegenwärtigung war das Grundprinzip der älteren Liturgie - die Kirche feierte ja nicht ein historisches Ereignis, sondern der Auferstandene war in ihr ganz unhistorisch gegenwärtig, wenn sie sich in seinem Namen versammelte. Wie es der altchristliche, vom Zweiten Vatikanische Konzil erneuerte Gebetsruf ausdrückt: "Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit."

Mit der konstantinischen Befreiung der Kirche veränderten sich die Akzente. Auf der einen Seite wurde der Sonntag nun als Fest- und Ruhetag offiziell im Kalender verankert (321) und verdrängte den römischen Saturntag und den jüdischen Sabbat vom Wochenanfang; unter Christen entwickelte sich, von Provinzialsynoden ausgehend, allmählich eine Sonntagsmeßpflicht. Auf der anderen Seite rückte jetzt das jährliche Osterfest - in Ost und West unterschiedlich ausgestaltet und nicht selten zu verschiedenen Zeiten gefeiert - in den Vordergrund: es erhielt seine zentrale Stellung im Kirchenjahr und zugleich eine Zuordnung zum Naturkalender. Das Konzil von Nikaia (325) traf bezüglich des Osterfestes zwei wichtige Entscheidungen: einmal bestätigte es den römischen Brauch, Ostern an einem Sonntag zu feiern; sodann legte es den Termin auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond fest. Damit waren die Eckpunkte des kirchlichen Kalenders gegeben: die jüdische Woche - freilich mit dem Sonntag, nicht mehr dem Sabbat im Mittelpunkt; das auf dem Sonnenkalender beruhende römische Jahr - freilich noch jahrhundertelang mit verschiedenen Jahresanfängen; endlich - auf dem Umweg über das jüdische Pessach - der mondabhängige Ostertermin, von dem her dann andere bewegliche Feste des Kirchenjahres (Aschermittwoch, Palmsonntag, Christi Himmelfahrt, Pfingstsonntag) bestimmt wurden; hinzukamen die "erinnernden" Heiligenfeste mit festen Terminen, die im Lauf der Zeit alle Regionen der Christenheit einbezogen und den ganzen Jahreskreis ausfüllten.

Der Ostertermin ist - wie andere Festtage auch - von mehreren Größen abhängig, die ihn "durch den Kalender wandern lassen". Weder das aus dem Umlauf der Erde um die Sonne sich ergebende Jahr noch der aus dem Umlauf des Mondes um die Erde sich ergebende Monat läßt sich durch den Tag (Umdrehung der Erde um ihre Achse) exakt teilen. Weil die 365 Tage des Jahres nicht durch 7 teilbar sind, also keine ganze Zahl von Wochen ausmachen, sind alle tagesdatierten Feste um 7 Wochentage verschiebbar. Wo aber ein bestimmter Wochentag, meist ein Sonntag, für die Feier gefordert ist, muß das Datum um 7 Einheiten schwanken, und wo zusätzlich zum Wochentag noch eine bestimmte Mondphase gefordert ist, muß das Datum um die Differenz zwischen Mondphasendatum und Sonnenjahrsdatum schwanken. Es gibt deshalb zwei Gruppen von beweglichen Festen: Zum einen die, bei denen nur ein bestimmter Wochentag in Bezug auf ein fixes Datum gefordert ist; hier umfaßt der Spielraum 7 Tage. So z.B. bei den vier Adventssonntagen, deren erster zwischen dem 27. November und dem 3. Dezember liegen kann, je nachdem, ob der 25. Dezember auf einen Sonntag oder einen anderen Wochentag fällt. Der sog. Weihnachtsfestkreis - inkl. die dreizehn Tage bis Epiphanie - ist jünger und weniger ausgreifend als der Osterfestkreis, der erheblich stärkere Turbulenzen mit sich bringt. Da Ostern auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond fallt, schwankt sein Datum nicht bloß um 7 Wochentage, sondern zusätzlich um die Differenz zwischen Mond- und Sonnenmonatsdatum. Bei einem fixen Frühjahrsbeginn am 21. März kann der erste Frühjahrsvollmond zwischen dem 21. März und dem 18. April stattfinden, Ostern aber - der Sonntag danach - auf 35 verschiedene Daten zwischen dem 22. März und dem 25. April fallen. Um diese 35 Tage verschieben sich alle an Ostern geknüpften Termine, die Sonntage der vorösterlichen, 40tägigen Fastenzeit und die Feste der 50tägigen, nachösterlichen Zeit bis Pfingsten, die Sonntage und die Feste wie Himmelfahrt, Trinitatis und Fronleichnam. Die kalendarischen Turbulenzen des Osterfestkreises betreffen die Monate Februar bis Juni; als letztes daran geknüpftes Fest fällt Fronleichnam - erst im 13. Jahrhundert eingeführt - spätestens auf den 24. Juni (das letzte Mal 1943, das nächste Mal 2038), den St. Johannstag. Die zweite Jahreshälfte ist wesentlich ruhiger. So dreht sich das christliche Jahr nicht monoton im Kreis wie eine Uhr, sondern vielmehr wie ein funkelndes und tingelndes Karussell über einem Exzenter.

Gewiß war die Entstehung einer kalendarischen Ordnung der Feste und Festzeiten auch ein Stück Historisierung: das Pathos des "Großen Festes" verzeitigte sich; eine Fülle von Festen entstand, die den natürlichen Ablauf der Zeit gliederten; neben die Herrenfeste traten die Feste der Heiligen. Aber dies alles war zugleich ein Stück Entfaltung der Kirche in der Zeit. Vor allem im Westen trat jetzt der Gedanke der Inkarnation in den Vordergrund: Wie Gott in der Menschwerdung in die Genossenschaft des Fleisches mit den Menschen gekommen war, so kam er auch in ihre Zeit-Genossenschaft; wie jede Eucharistiefeier die Erinnerung an Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt wachhielt, so zeichneten die Herren- und Heiligenfeste im Kirchenjahr das heilige Geschehen in der Geschichte nach. Auch hier "sank die Kirche in die Zeit ein". Immer größere Zeiträume wurden der Reflexion zugänglich. Die Welt hörte auf, für den Christen nur ein zufällig-kontingentes Milieu der Tugendübung zu sein wie im älteren, endzeitlich geprägten Christentum: sie wurde in die Heilsgeschichte einbezogen. Das Christentum begann Welt und Gesellschaft zu umfassen. Die "innerweltlich-heilsgeschichtliche Orientierung der abendländischen Kirche" kündigte sich an.

So war es mehr als ein historischer Zufall, daß im 6. Jahrhundert im Westen an die Stelle der alten Passions-und Auferstehungsära - die noch die Ostertafeln des Victorius prägte - die Inkarnationsära trat. Künftig nahm die Berechnung des Osterzyklus ihren Ausgang vom Geburtsdatum Christi. Und so verfuhr auch die neue christliche Zeitrechnung. Hand in Hand damit ging eine Ausweitung der historisch überblickbaren Zeiten, die sich seit langem vorbereitet hatte. Man kann sie deutlich an der Arbeit der Komputisten erkennen: umfaßten die Berechnungen des Osterzyklus im dritten Jahrhundert zunächst Perioden von 84, 95 und 112 Jahren, so wuchsen sie im vierten Jahrhundert auf 200, im fünften Jahrhundert auf 500 Jahre an 28) , bis endlich der früh- und hochmittelalterliche Computus, die mathematisch-astronomische Oster- und Kirchenrechnung, noch größere Zeiträume zu überblicken begann.

Indem die Kirche die Zuständigkeit für die "natürliche Zeit" und den Kalender übernahm, trat sie in die Kompetenzen des sinkenden Römischen Reiches ein. Auch für Kalenderreformen, wie sie im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte notwendig wurden, hatte sie nun einzustehen. Das brachte viele Probleme mit sich. Einmal reichten die damaligen astronomischen und mathematischen Kenntnisse nicht aus, um die ohnehin spärlichen biblischen Zeitangaben über Geburt und Leben Jesu hinreichend zu konkretisieren; zum anderen zeigten sich bald die Schwierigkeiten der Koordination der verschiedenen durch die Gestirne gegebenen Zeitordnungen. Nicht nur der julianische Schalttag alle vier Jahre war um etwa 11 Minuten pro Jahr überzogen, was in 128 Jahren einen Tag ausmachte - auch beim 19 jährigen Mondzyklus erbrachte die Schaltung in 310 Jahren einen Tag zuviel. So wurde Ostern in späteren Zeiten oft am falschen Sonntag gefeiert, abweichend von dem durch das Konzil von Nikaia bestimmten Naturtermin - ein Übelstand, der seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert mit bloßem Auge festzustellen war.

Die Gregorianische Reform (1582) vollzog nach langem Anlauf eine bessere Anpassung an das tropische Jahr, indem sie die bereits auf den 11. März vorgerückte Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche auf den 21. März festsetzte: 10 Tage fielen aus; auf Donnerstag, den 4. Oktober 1582 folgte Freitag, der 15. Oktober 1582. Zugleich wurde die Schaltregel dadurch verbessert, daß in 400 Jahren 97 Schalttage vorgesehen wurden; in den durch 100 teilbaren Jahren wurden die Schalttage weggelassen - falls nicht die Hunderterzahl durch vier teilbar war. Gegen die "päpstliche" Kalenderreform gab es Widerstände - Europa war inzwischen konfessionell gespalten. Obwohl die Maßnahmen durch eine internationale Kommission vorbereitet worden waren und obwohl sie manchem Fachmann nicht weit genug gingen, setzte sich der reformierte Kalender nur langsam durch. Zuerst übernahmen ihn die katholischen Staaten, dann ab 1700 die protestantischen; erst 1918 die Sowjetunion, 1923 die Gebiete der griechischen Orthodoxie (diese jedoch ohne die neue Osterregel!), 1927 die Türkei. Damit kehrte der christliche Kalender - nunmehr verändert und verbessert, aber immer noch auf der Grundlage des julianischen Jahres aufbauend - in die Gebiete seines altchristlichen Ursprungs zurück.

Doch der christliche Kalender prägte nicht nur die langen Zeiträume, die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Er wirkte vor allem nach innen auf das Zeitgefühl und Zeitbewußtsein der Menschen ein. Die in die Naturzeit hineingestellten, regelmäßig wiederkehrenden Sonn- und Feiertage, die auf große Feste hingespannte Zeit, der Rhythmus des Kirchenjahres - das alles sollte die Menschen schon im Alltag auf die Ewigkeit hinlenken. Tag, Woche und Jahr wurden zu Abkürzungen des Erlösungsweges der Menschheit. Die Zeitmaße füllten sich mit spiritueller Bedeutung. In den folgenden Jahrhunderten drängte die christliche Zeitrechnung allmählich die anderen Zeitrechnungen zurück. Der Prozeß vollzog sich langsam. Vielfach zählte man noch nach Regierungsjahren: so die Langobarden und Franken nach den Jahren ihrer Könige, die Päpste (seit 781) nach den Pontifikatsjahren; auch die 15jährige Steuerzyklen behaupteten sich lange. Für die Tageszählung galt noch immer der römische Kalender. Die eigentliche Durchsetzungsphase der christianisierten Zeit ist erst das Hochmittelalter von 1000 bis 1300 ... Die allgemeine Verbreitung ist nicht vor dem 12. Jahrhundert erreicht. Von da an freilich wagte man die von Dionysius Exiguus vorgenommene Datierung nach Christi Geburt - trotz nie ganz verstummender rechnerischer Bedenken - nicht mehr ernstlich in Frage zu stellen: ein Beweis dafür, daß das Prinzip der Inkarnationsära sich endgültig durchgesetzt hatte. Das ganze Mittelalter hindurch und bis weit in die Neuzeit hinein blieb freilich der größere Horizont einer biblischen Altes und Neues Testament umfassenden Zeit- und Geschichtsbetrachtung bestehen; hier war der Ort für die alttestamentarischen Weltalterlehren und ebenso für christliche Spekulationen über die Herrschaft des Antichrist, das Millennium, das bevorstehende Weltende. Aber diese Welterschaffungs- und Weltalterlehren entfalteten sich ohne die rechnerische Präzision, welche die Suche nach dem richtigen Ostertermin im Bereich der christlichen Zeitrechnung ausgelöst hatte: bald differierten die Jahre der Erschaffung der Welt nicht nur zwischen Juden und Christen, sondern auch zwischen den Christen selbst. Gegenüber dieser Unsicherheit war die Geburt Christi ein verläßliches und berechenbares Datum; in ihr, so schien es, konnte der Zeitlaufs eine natürliche Mitte, seinen Anker finden.

So entwickelte sich bereits im Mittelalter vom Fixpunkt der Geburt Christi aus eine Zahlung nach rückwärts - die sogenannte retrospektive Inkarnationsära. Es war Beda Venerabilis der als erster in der Kirchengeschichte ein Ereignis auf diese neue Weise datierte: Cäsar, so schreibt er, kam nach England im Jahre 60 vor Christus - ante vero Incarnationis Dominicae tempus anno sexagesimo - es ist die erste Rückwärtsdatierung der Weltgeschichte. Die retrospektive Inkarnationsära wurde erst mit der Zeit des Buchdrucks populär. Stilbildend wirkte der Kölner Kartäuser Werner Rolevinck mit seinem Fasciculus Temporum (1474). Sein "Zeitbündel" reichte von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart. Die retrospektive wie die prospektive Inkarnationsära setzten sich seit dem 17. Jahrhundert überall in Europa endgültig durch. Dabei mag der Umstand mitgespielt haben, daß diese Zählweise auch der protestantischen Geschichtsschreibung akzeptabler erscheinen mußte als ein Zeitgerüst aus Regierungszeiten der Päpste; und ähnlich konnten Völker, die nicht zum Heiligen Römischen Reich gehörten, ihre Könige und Fürsten leichter in einer Zeit nach Christus unterbringen als in einer Folge kaiserlicher Regierungsjahre. Jedenfalls: die katholischen wie die protestantischen Länder Europas wandten sich nun allmählich von der biblizistischen Weltära ab. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts häufen sich die Belege. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden um die alte Schöpfungsära nur noch Nachhutgefechte geführt.

Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß sich jene Zeitrechnung, die Christus in die Mitte der Zeit rückte, just in der Zeit der Aufklärung endgültig durchsetzte - in einer Zeit also, die sich in vielen Bereichen von christlichen Überlieferungen loszulösen begann. Doch den praktischen Vorteil der chronologischen Rechnung von einem Fixpunkt aus konnten auch Kritiker des Christentums nicht leugnen. Und der neue Pluralismus der Kulturen setzte den christlichen Zeitrahmen keineswegs außer Kurs, er bestätigte ihn eher: auf welche andere Achse der Geschichte hätte man sich denn ohne Schwierigkeiten einigen können? So kam in den Jahren vor der Französischen Revolution ein über 1200 jähriger Prozeß zum vorläufigen Abschluß, der 525 mit dem Osterzyklus des Dionysius Exiguus und der ersten Zahlung nach Christi Geburt begonnen hatte.


Gegenzeitrechnungen und Gegenkalender

So definitiv der Sieg der christlichen Zeitrechnung zu sein schien, so wenig blieb er ohne Widerspruch. Das galt schon für das späte 18. Jahrhundert. Während sich die Zahlung vor und nach Christus in Europa und im Westen durchsetzte und in den folgenden Jahrhunderten sogar die außerchristlichen Kulturen eroberte 59), kam es in der Französischen Revolution zum ersten geschlossenen Gegenentwurf: dem republikanischen Kalender. Mit geringerer Wirkung experimentierten im 19. Jahrhundert Philanthropen, Positivisten, Anhänger Comtes und Nietzsches mit neuen Kalendern und neuen Zeitrechnungen - das blieb im allgemeinen auf kleine Sektiererkreise beschränkt und interessierte nur wenige. Erst das 20. Jahrhundert wartete dann wieder mit größeren Experimenten, mit Gegenzeitrechnungen und Gegenkalendern auf - im bolschewistischen Rußland, im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland. Die Auflehnung gegen den inzwischen 200 Jahre alten Gregorianischen Kalender kam aus verschiedenen Quellen. Da war einmal die nie ganz verstummte Kritik von Astronomen und Mathematikern, denen die Reformen des Papstes entweder zu weit oder nicht weit genug gegangen waren - brachte doch jede Kalenderreform die Schwierigkeit mit sich, daß man erhöhte Präzision durch vergrößerte Unordnung erkaufte. Hinzu kam die aufklärerische Lust am glatt und gleichmäßig Teilbaren, an der Ästhetik des Dezimalsystems - sie richtete sich gegen die "irregulären", weil verschieden langen Monate, vor allem aber gegen die Woche, der man vorwarf, daß sie weder den Monat noch das Jahr genau teilte. Endlich störten das von Jahr zu Jahr neu zu datierende Osterfest und die von ihm abhängigen beweglichen Feste der Kirche - war es nicht möglich, dafür ein für allemal fixe Termine zu bestimmen? Freilich, solche Erwägungen hätten kaum hingereicht, um die Abkehr von der christlichen Zeitrechnung und die Einführung einer ganz neuen Zeitzählung zu rechtfertigen. Also mußte anderes hinzukommen: der im Lauf der Revolution sich vertiefende Bruch mit der Vergangenheit, mit Königtum, Kirche, christlicher Überlieferung; das Bewußtsein eines epochalen Einschnitts, einer Zeitgrenze, über die keine Brücke, kein chronologischer Notsteg hinüberführte; und endlich, aus beidem erwachsend, die Flucht nach vorn - in eine neue, selbstgeschaffene Zeitrechnung, die "Jahre der französischen Republik".

So wurde der Revolutionskalender zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der christlichen Vergangenheit auf vielen Ebenen: von der Bestimmung des Jahres bis zur Einteilung des Tages, von der Gliederung der Arbeitszeit bis zum Rhythmus der Feste und Feiern - ein Unternehmen, das mit unerbittlicher Logik Zug um Zug voranschritt. Anfangs dominierten in der Diskussion die Forderungen technischer Rationalität: wie im Bereich der Längenmaße und Gewichte, so sollte auch im Bereich der Zeitrechnung und -messung das Dezimalsystem eingeführt werden; auf diese Weise sollte zur "Herrschaft über den Raum" die "Herrschaft über die Zeit" hinzukommen. Doch bald zeigte sich, daß mit Rationalisierungen und Vereinfachungen solcher Art noch keine "neue Zeit" zu gewinnen war, zumal das bisherige System so tiefgreifenden Veränderungen Widerstand entgegensetzte: das Jahr hatte nun einmal zwölf, nicht zehn Monate, und die Uhr mit zehn Stunden setzte sich in der Praxis nicht durch. So ging man entschlossen an die Destruktion der alten Zeitrechnung und nahm zugleich das liturgische Jahr, die Heiligenfeste, die Siebentagewoche mit dem Sonntag ins Visier: die alte Zeit sollte verschwinden, eine neue aus dem Überschwang des revolutionären Festes geboren werden; die überlieferten Monatsnamen sollten abgeschafft und durch neue ersetzt werden; an die Stelle des Sonntags sollte der Decadi treten. Beim neuen Zeitbeginn und seiner Bezeichnung schwankte man einige Jahre hin und her. Mit dem Jahresbeginn 1792 wich die Legislative erstmals von der christlichen Zeitrechnung ab und datierte mit dem "dritten Jahr der Freiheit". Im August desselben Jahres ging man zum "vierten Jahr der Freiheit und ersten Jahr der Gleichheit" über, und nach der Abschaffung der Monarchie datierte man - erstmals am 22. September 1792 - nach "Jahren der französischen Republik". Die neue Zeitrechnung wurde durch Dekret des Konvents vom 5. Oktober 1793 (ergänzt am 24. Oktober desselben Jahres) in Kraft gesetzt. Vom 22. September 1792 an galt das Jahr Eins der Republik. Es ist bemerkenswert und verdient hervorgehoben zu werden, daß man selbst im Pathos des neuen Anfangs nicht versäumte, das historische Ereignis der Gründung der Republik an der Naturzeit zu legitimieren. Hier bot die Nähe des Gründungsdatums zur herbstlichen Tages- und Nacht-Gleiche des Jahres 1792 der glaubensfreudigen Zeit das willkommene Stichwort an. "So hat die Sonne gleichzeitig die beiden Pole und nach und nach die ganze Erde am selben Tag erleuchtet, an dem zum ersten Mal über dem französischen Volk die Fackel der Freiheit erglänzte - jene Fackel, die eines Tages das ganze menschliche Geschlecht erleuchten wird."

So führte der revolutionäre Gegenentwurf gegen die christliche Zeitrechnung und den christlichen Kalender im Ergebnis zwei gegensätzliche Tendenzen zusammen. Auf der einen Seite, aus aufklärerischer Wurzel, die Rationalisierung und Mathematisierung aller Lebensverhältnisse, wie sie in der durchgehenden Dezimalisierung der Zeitmaße, in der Egalisierung der Monate und im Wegfall von Woche und Sonntag zum Ausdruck kam - eine Tendenz, die sich, wenn auch abgeschwächt, bis heute gehalten hat und die noch den (spärlicher gewordenen) heutigen Vorschlägen zur Reform des Gregorianischen Kalenders, aber auch vielen Überlegungen zur gleitenden Arbeitswoche zugrundeliegt. Auf der anderen Seite, aus romantischem Zeitgefühl, das Bedürfnis nach "naturnahen" Tages und Monatsnamen, die das rationalistische Gerüst der "neuen Zeit" gemütvoll umkleiden sollten: so wurde das Jahr zu einem poetischen Reigen der Natur (Vendemiaire, Brumaire, Frimaire etc.); die eben noch in dürrer Manier nur abgezählten Tage (Primedi, Duodi, Tridi, usw.) erhielten Namen von Pflanzen, Tieren, Mineralien; den Decadis wurden ländliche Ackergeräte zugeordnet, und vollends sollte an den am Ende des Jahres übriggebliebenen Tagen, den "Sansculottiden", die Tugend, der Geist, die Arbeit, die Meinung und die Anerkennung gefeiert werden: Was sich nicht in die rationale Einteilung des Jahres fügte, wurde zum Fest. Gemeinsam war beiden Tendenzen, daß sie gegen die Siebentagewoche und den christlichen Sonntag standen. Freilich gelang es auf die Dauer nicht, den Sonntag durch den Decadi zu ersetzen. Selbst auf dem Höhepunkt der Dechristianisierungswelle galt der republikanische Kalender in Frankreich nicht unumstritten - schon gar nicht in ländlichen Regionen. Entscheidend waren wohl neben der Anhänglichkeit an die Tradition auch soziale Gründe: mit den alten Festen und dem Sonntag zog der Staat ein nicht unerhebliches Stück Freizeit ein; er kündigte den jahrhundertealten Konsens über die Ruhe am siebten Tag auf und erweiterte die Arbeitszeit abrupt von sechs Tagen auf neun. Es bedarf noch genauerer Untersuchung, welche Motive schließlich zum Zusammenbruch der revolutionären Zeitrechnung geführt haben. Aber sicher war es nicht nur nachrevolutionäre Erschöpfung, auch nicht allein der Wille Napoleons zum Friedensschluß mit der Kirche, die hier den Ausschlag gaben. Gab es doch neben der religiösen auch immer astronomische und mathematische Kritik am republikanischen Kalender - und selbst ehemalige Anhänger gaben schon 1801/02 die Sache verloren, ehe Frankreich 1805 den revolutionären Kalender abschaffte und zur christlichen Zeitrechnung zurückkehrte.

Gemessen an der dogmatologischen Geschlossenheit der revolutionären Zeitrechnung und des republikanischen Kalenders wirken die Nachspiele im 19. und im 20. Jahrhundert wie ein Abgesang. Comtes "Calendrier positiviste" lehnte sich an die revolutionäre Festgestaltung an, indem er Monate und Tage nach großen Männern (auch einzelnen großen Frauen) benannte; doch sparte er die Heiligen nicht völlig aus. Sein Jahr bestand aus 13 Monaten zu 28 Tagen; auf die endgültige Festlegung einer neuen Ära verzichtete er ganz.

Nietzsches Ecce homo erhob den Anspruch, mit dem 30. September 1888 der "falschen Zeitrechnung" den "ersten Tag des Jahres Eins" neu zu beginnen; und Kreise seiner Jünger entwickelten später eine paradoxe Übung, die Jahre nach dem Tod Gottes zu zählen. Doch das waren Experimente ohne größere soziale Wirkung; die breite Öffentlichkeit erreichten sie kaum.

Selbst die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts haben die herkömmliche Zeitrechnung und Kalenderordnung nicht mehr dauerhaft in Frage stellen können. Lenins Versuch, die Arbeitstage auf Kosten der Feste auszudehnen, stieß schon in der Revolution auf Widerstand: die Petersburger Arbeiter sahen hier einen sozialpolitischen Besitzstand gefährdet. Spätere Experimente der Sowjetunion mit einer gleitenden 5-Tage-Arbeitswoche ohne Samstag und Sonntag waren nicht von Dauer. Im Zweiten Weltkrieg kehrte Stalin zur traditionellen Woche und zum Sonntag zurück. Mussolinis faschistische Ära, vom 28. Oktober 1922 an gerechnet, dem Tag des Marsches auf Rom, war von Anfang an eine Zweitzählung, die neben das normale Datum trat; sie wurde im übrigen nicht sonderlich ernst genommen. Was das millenarische "Dritte Reich" anging, so beschränkte es sich darauf, die Spuren der christlichen Zeitrechnung zu verwischen ("nach der Zeitwende"), Kalenderzensur zu üben und in Entwürfen für die Zukunft von einem "germanischen Kalender" und einer neuen Zeitrechnung zu träumen; geblieben ist davon so gut wie nichts.

Und so leben wir noch heute in der Ära, die Dionysius Exiguus im Jahr 525 begründet hat, und wir rechnen unsere Erdentage post Christum natum, nach der christlichen Zeitrechnung - nach einer Zeit in der Zeit.




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