Der Sänger erzählt. Mündliche Poesie und Trance
141. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 24.08.2002 von Dr. Christoph Hönig (Gastvortrag)
Inhalt:
ZUR WIRKUNGSWEISE MÜNDLICHER POESIE
Analphabeten erfanden die Poesie
Zur leichten Trance in rhythmisch gesungener Poesie
Metra müssen begeistern
VORLAUF. DIE MÜNDLICHE VORGESCHICHTE FRÜHER TEXTE
Göttin Gedächtnis
Sintflut: Die Jahrtausend-Erzählung
Versgesänge in Troia
Buddhas Reden - mündlich überliefert
Geheimlehren im Kopf
Lehrer der Menschheit - redend, nicht schreibend
Mittelalterliche Epik
Volksmärchen
Volkslieder
DREI PARADIGMEN DER VERSKUNST
VERSE IM KOMMUNIKATIONSPROZESS
1. Das alte Paradigma der mündlichen Poesie: leichte Trance
2. Das traditionelle Paradigma der schriftlichen Poesie: Klangschönheit
3. Das moderne Paradigma: stilles Lesen
ZUR WIRKUNGSWEISE MÜNDLICHER POESIE
Analphabeten erfanden die Poesie
Unser deutsches Wort "Dichter" kommt vom lateinischen
"dictare" = diktieren, schreiben. Daher sprechen wir auch
vom "Schriftsteller", französisch "ecrivain", englisch
"writer", italienisch "scrittore", spanisch "escritor", polnisch "literat".
Was die Schreibenden produzieren, ist "Literatur" =
lateinisch "litteratura" = Buchstabenschrift, Schrifttum.
"Poesie" dagegen heißt etwas ganz anderes. Es kommt vom
griechischen "poíein" = machen, herstellen. Der Poet ist also einer, der - aus der täglich gesprochenen Sprache -
etwas macht, ein Gestalter.
Die Poesie - die haben nicht die Schreiber, sondern die
Analphabeten erfunden! Die elementaren Formen der Poesie
sind alle älter als die Schrift: ob Mythos oder Märchen,
Legende oder Hymnus, lyrisches Lied, epische Erzählung oder
dramatisches Theater. Ohne mündliche Überlieferung gäbe es
keine Poesie! Verglichen mit der Jahrtausende umfassenden
Menge des Schriftlosen sind die Schriftbesitzer und
Lesenden eine Minderheit.
Der Analphabet braucht kein anderes Medium als eine Stimme
und Ohren. Und dafür haben die Analphabeten etwas erfunden,
was noch heute, besonders im romanischen Sprachraum, als
gleichbedeutend mit Poesie gilt: den Vers. Verse sind
ursprünglich nicht in Zeilen gebrochene Texte, wie wir sie
heute wahrnehmen, sondern Klangrede! Verse sind also nicht
allein, wie die Metriker zu meinen scheinen, mehr oder
minder komplizierte Schemata, schlichte oder raffinierte
Regeln, eine Sache pedantischen Skandierens und buchhalterischen Zählens von Silben. Nein, sie sind ursprünglich
erlebte, innerlich bewegende Wirklichkeit, ein
Zaubermittel, das älteste Tiefenschichten in uns zum
Schwingen bringt, das begeistern, das göttlich
inspirierte Bilderwelten evozieren kann. Ja, Verse sind die
ureigene Sprache der Götter - sie reden in Versen. Und
daher wird der epische Sänger zu Recht göttlich genannt, denn er ist "den Göttern an Stimme vergleichbar" (Odyssee I,371;IX,4).
Zur leichten Trance in rhythmisch gesungener Poesie
Ist es nicht manchem schon so ergangen? Es heißt, man solle, will man zum Kreis der
humanistisch Gebildeten gehören, auch einmal Homer gelesen haben. Die Allerwenigsten
werden sich heute mit dem Lesen des griechischen Originals abmühen. Es gibt eine altehrwürdige Übersetzung von Johann Heinrich Voß sowie auch neuere Übertragungen in
deutschen Hexametern. Doch bei allem redlichen Bildungswillen: Wirkt das ewige Gleichmaß
Tausender von Langversen nicht bald langweilig, ermüdend? Man wagt es kaum auszusprechen, aber es ist doch immer dieselbe Leier.
Ermüdung? Dieselbe Leier? Ja, diese Verse wirken wohl heute noch ein wenig wie einst
- beinahe. In der Tat wurden sie von einer "helltönenden Leier", der mit vier Saiten
bespannten Phorminx, recht monoton begleitet, und so sollten sie auf ihre Weise ermüdend
wirken. Dem heutigen stillen Leser bleibt aber nur noch das leichthin Einschläfernde der
Verse, denn er hört längst nicht mehr den einst hypnotisch wirkenden eindringlichen Ton des Sängers. Er gehört nicht mehr zum eingeweihten
Kreis der - im wahren Sinne des Wortes - gebannt Lauschenden. Durch den unablässigen,
schwingenden Singsang verfielen sie einst nicht in Schlaf, sondern in eine leichte Trance, die
das Tagesbewusstsein ausblendete und eine innere Bilderwelt heraufbeschwor. Der
Erzählkreis war ein Bannkreis. Er schloss die Alltagswelt aus und schloss auf geheimnisvolle
Weise, das heißt auf rhythmischem Wege, die Welt der Helden und Götter auf.
Gewiss könnte man die alten Geschichten vom "Ruhm der Männer" auch "frei von der
Leber weg" in nicht gebundener Sprache spannend erzählen.
Und so mögen des Abends die
Frauen am Spinnrocken und die Männer beim Wein sich oft mancherlei erzählt haben. Der homerische Sänger aber hat mehr und anderes zu bieten als die spontane und profane Prosa
des üblichen Erzählens am Feierabend.
Bertolt Brecht schreibt im "Nachtrag" zu seinem Aufsatz
"Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen" zur
Wirkung älterer Poesie:
Sehr regelmäßige Rhythmen hatten auf mich eine mir
unangenehme einlullende, einschläfernde Wirkung wie sehr
regelmäßig wiederkehrende Geräusche (Tropfen aufs Dach,
Surren von Motoren), man verfiel in eine Art Trance, von
der man sich vorstellen konnte, dass sie einmal hatte
erregend wirken können; jetzt tat sie das nicht mehr.
[...] In der mir unangenehmen Traumstimmung, die
durch regelmäßige Rhythmen erzeugt wurde, spielte
das Gedankliche eine eigentümliche Rolle: Es bildeten
sich eher Assoziationen als eigentliche Gedanken; das
Gedankliche schwamm so auf Wogen einher [...].
In der Tat. Der monotone Rhythmus erzeugt einen Zustand
eingeengten Bewusstseins. Die Welt ringsum versinkt, und
eine imaginierte Welt entsteht. Wir sprechen von
leichter Trance.
Dieses Wort kommt vom lateinischen "transire" über das
altfranzösische "transe" zu uns als "Trance" und heißt
wörtlich: das "Hinübergehen". Fragt sich nur: wohin? Es ist
jedenfalls sicher, dass "eine Art Trance", wie Brecht schreibt,
"einmal hatte erregend wirken können". Erlebt wird sie
meist abends, wo jeder ohnehin empfänglicher ist und die
sichtbare Umwelt verdämmert. Der Weg in die leichte Trance gleicht
dem Verlöschen des Tageslichts. So erst kann man - in der
Dunkelheit - das Leuchten der Sterne am Himmel wahrnehmen.
Doch eigentlich leuchten die Sterne stets und ständig, auch wenn man sie beim Tageslicht nicht sieht. Durch ein Abblenden
der Sinne von der Alltagswelt kann man sich vom
Wachbewusstsein lösen, um in ein anderes Bewusstsein
einzutauchen - ein Schweben zwischen Traum und
Wirklichkeit, in dem man das Leuchten der ewigen Sterne wahrnimmt. In
diesem Schwebezustand ist man nicht ganz bei sich, sondern
in anderen Sphären. Man gerät in eine veränderte, die
freie Willensbestimmung begrenzende Bewusstseinslage, die
sich bei dafür empfänglichen Menschen auf suggestivem Wege
erzeugen lässt. Ein solcher Zustand kann unter anderem durch
Drogen, Atemtechniken, Hypnose, Autosuggestion, aber auch
Tanz, Musik und Psalmodieren herbeigeführt werden.
So werden unterbewusste Fähigkeiten und
mentale Kräfte freigesetzt.
Der hier in Bezug auf die rhythmisch gesungene Poesie gebrauchte Terminus "leichte Trance" könnte missverständlich sein, denn der Begriff "Trance" wird üblicherweise in einem weiten und ungenauen Sinne für durchaus unterschiedliche, stets freilich außerwache Zustände gebraucht. Bei den asiatischen Schamanen, die noch heute in Zuckungen völlig außer sich geraten können und entrückt scheinen, oder aber bei der großen Mystikerin Teresa von Avila und ihrer einsamen Gottesschau in höchster Verzückung sollte man statt von Trance besser und genauer von Ekstase, das heißt: von "Außer-sich-Sein", sprechen. In der stillen, meditativen Versenkung dagegen befindet sich z.B. der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart im göttlichen Einssein, der unio mystica, oder der indische Yogi ebenfalls in Trance, einem außerwachen, nun aber zutiefst verinnerlichten, beruhigten Zustand. Vom ekstatischen Rasen oder der Verzückung, dem Außer-sich-Sein, bis zum meditativen Versinken, dem ganz In-sich-Sein reicht also die Spanne außerwacher Zustände. Und es gibt zahlreiche Zwischenstufen. Eine davon, eine sanfte, ist die hier so genannte "leichte Trance", die z.B. durch das rhythmische Psalmodieren im Chor betender Mönche oder durch den lang anhaltenden metrischen Singsang der in der Runde singenden Erzähler oder erzählenden Sänger erlebt werden kann.
In der rhythmisch erzeugten leichten Trance kommt es zu einer
anderen Art der Informationsverarbeitung im Gehirn.
Regelmäßige Geräusche synchronisieren physiologische
Funktionen. Ja, sämtliche Lebensvorgänge im Körper
werden durch rhythmisch ablaufende Aktivitätsveränderungen
in unserem Nervensystem gesteuert. Deshalb ist auch der
rhythmisch
wummernde Beat in der Popmusik so "wahnsinnig" begehrt
und bietet die Basis einer milliardenschweren Industrie.
Akustischer Rhythmus setzt an im Bereich des Zwischenhirns,
wo die rhythmischen vegetativen Funktionen von Herzschlag und Atmung reguliert werden.
Wirkungen der Rhythmen wurzeln in der menschlichen Biologie:
Durch ständige Wiederholung eines Rhythmus oder einer Melodie können Zustände der Trance [...] bewirkt werden. Vermutlich geraten bei dem dauernd wiederholten gleichen Reizanstoß Neuronenkreise ins Schwingen, wobei in Resonanz immer größere Neuronenpopulationen erfasst werden [...]. Auf diese Weise entstehen veränderte Bewusstseinszustände. (Irenäus Eibl-Eibesfeld: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 5. Aufl. 2004, S. 939 f.)
Aber Trance ist auch ein bildgebendes Verfahren. Wie wir aus der Oberstufe des Autogenen Trainings wissen, kommt
es in diesem außerwachen Zustand zur "autogenen Imagogik"
oder Bilderschau, zum "katathymen Bild-Erleben". (Vgl.
Klaus Thomas: Praxis der Selbsthypnose des autogenen
Trainings. Stuttgart 1969, S. 100 ff. "Bilderschau und Erlebnisse in seelischen Sonderzuständen" werden hier in einer großen Tabelle aufgelistet.)
Wenn einst der vorhomerische und homerische Sänger seinen
stundenlangen monotonen metrischen Singsang ertönen ließ,
wurden die Hörer in seinem Bannkreis in einen außerwachen,
tranceähnlichen Zustand versetzt. Hierfür wurden in grauer
Vorzeit die Verse erfunden! Daher spricht der Dichter
nicht in Prosa, sondern er singt in Versen, begleitet von
der Phorminx, der "helltönenden Leier". Die Taten der
Götter und Helden erscheinen so in einem eigenen Licht!
Es ist ein "katathymes Bild-Erleben", eine Bilderschau in
leichter Trance!
Aber was ist das: "katathymes Bild-Erleben"? Man kann es
am sprachlichen Bild einer brennenden Kerze
exemplifizieren. Jeder vermag sie sich vorzustellen, sich
einen Begriff davon zu machen, selbstverständlich. In der
leichten Trance des autogenen Trainings aber leuchtet
etwas anderes auf vor dem inneren Auge: ein Bild von ganz
andersartiger, authentischer Intensität. In der durch die
monotonen Vers-Rhythmen des epischen Sängers erzeugten
leichten Trance erscheint nun die erzählte Geschichte,
erscheinen die Helden und ihre Taten in einer Bilderschau
von unvergleichlicher Erlebnistiefe.
Beim stillen, einsamen Lesen eines Buches läuft die Story
ab wie ein mehr oder weniger deutlicher innerer Film im Kopf. Durch den live dargebotenen rhythmischen Gesang des
erzählenden Sängers vor dem Kreis der gebannt lauschenden
Hörer erschien dagegen einst die Heldengeschichte in einem
durch die leichte Trance ausgestrahlten ganz anderen Licht: in
"katathymem", ja in göttlichem Licht. Daher heißt der singende
Epen-Erzähler auch zu Recht "der göttliche Sänger". Er
kann rhythmisch-metrisch ein Bild-Erleben erzeugen, das
anscheinend nicht von dieser Welt ist.
"M e t r a müssen b e g e i s t e r n. Eigentliche Poesie." So notiert Novalis in den
Aufzeichnungen zur Fortsetzung des "Heinrich von Ofterdingen". Ja, Metren sind das
Geheimnis der "eigentlichen Poesie". Und dieses verbirgt sich tatsächlich in den Worten: sie
"müssen begeistern". Doch wie ist das zu verstehen? Metren können "begeistern",
denn Verse haben - so empfinden wir noch heute - etwas Besonderes, Feierliches. Sie heben
sich ab von der Prosa des Alltags. Sie unterstehen eigenen Gesetzen. Sie sind gebundene
Sprache. Aber ist dies nicht nur artistische Sprachspielerei, die zudem großenteils veraltet,
also im Wesentlichen nutzlos geworden ist? Und in der Tat, wer umfangreiche Artikel in
Literaturlexika über "Ilias" und "Odyssee" nachliest, findet (z.B. in Kindlers Neuem Literatur
Lexikon von 1996) nur die trockene, formale Feststellung, sie seien in Hexametern
geschrieben. Doch was soll das besagen? Was bedeutet das für ihre ursprüngliche
Realisierung im Vortrag des Sängers? Sprache, gesprochene, gar gesungene Sprache,
verwirklicht sich nicht durch Buchstaben in Büchern. Sie lebt als Klangrede im Hörerkreis.
Sie ist ursprünglich nicht Literatur (das heißt wörtlich: "Buchstaben"-Kunst), sondern Poesie
("Gestaltetes"). Gebundene Sprache bindet auch die Hörer!
"M e t r a müssen b e g e i s t e r n", sagt Novalis. Doch weshalb muss das so sein? Es
ist eine Erfahrung, die jeder täglich beim Musikhören machen kann: Durchgehenden ostinaten
Rhythmen kann sich keiner entziehen. Wo sie sich hören lassen, zwingen sie Körper und
Geist in ihren Bann. So fesselt die gebundene Sprache den Dichtersänger ebenso wie den
Hörer. Dieses Phänomen wurde einst als etwas Göttliches erlebt. Wir meinen, es heute hirnphysiologisch erklären zu können.
Die erzählten Inhalte werden in einem Teil des Großhirns, im meist linksseitig gelegenen
Sprachzentrum rezipiert. Die Wahrnehmung von Rhythmen dagegen ist in einem Millionen
Jahre älteren Hirnteil, dem Zwischenhirn wie auch im Stammhirn, lokalisiert. Akustisch
wahrgenommene durchrhythmisierte Sprache spricht also einerseits, vom Inhalt her, unser
evolutionsgeschichtlich jüngstes Organ, das Großhirn mit seinem Sprachzentrum an,
andererseits, vom Metrum her, die ältesten Schichten unseres Gehirns. Die Rhythmisierung
von Sprache stellt demnach eine ganz eigene Verbindung zu Tiefenschichten unseres Gehirns
her, die kaum noch etwas zu tun hat mit unserer Alltagssprache. Hier gelten andere, ältere
Gesetze. Evolutionsgeschichtlich älter aber bedeutet, wie man weiß, immer zugleich: von
wesentlich tieferer Wirkung.
Das Sensorium der Hörer schwang nun im Gleichmaß des Metrums der im Singsang
gesungenen Verse. Das neuronale Netz wurde in bestimmten Hirnbereichen permanent
rhythmisch aktiviert. Die melodische Rhythmisierung des zu Sagenden führte diesem Energie
zu, die aus Tiefenschichten des Gehirns stammte und wiederum in Rückkopplung auf diese
zurückwirkte.
Im Wortmaterial selbst, einem Produkt unseres Großhirns, gibt es Strukturen, die auf
diese energetischen Signale reagieren. Rhythmische Strukturen können Funktionen von
Worten beeinflussen. Sie gehen mit ihnen Verbindungen ein, die den Bedeutungsgehalt des
Wortmaterials verändern, ihn erhöhen, ihn vertiefen, seine Tragweite steigern.
Wovon auch immer die Verse Homers erzählen mögen - vom Grauen der Kämpfe oder
vom Glück der Heimkehr -, den disparatesten Dingen liegt im gegebenen Versmaß etwas
alles Verbindendes zugrunde: Alles steht miteinander im Zusammenhang, alles findet sich im
Zusammenklang. So hat alles sein Maß, gehorcht einer beweglichen und bewegenden
Grundmelodie.
Doch die Wirkung des alten Zaubers ist geschwunden, seit der bezwingende Gesang des
vorhomerischen Sängers im Kreise seiner Hörer verhallt ist, weil er mehr und mehr verdrängt
wurde durch das geschriebene Wort, das schließlich nach langer Zeit nur noch vom einzelnen
Leser im Stillen wahrgenommen wird.
Aus der Poesie des Sängers - einem Klang-Ereignis - ist Literatur, Schriftstellerei
geworden. Der einst gebannt lauschende Kreis der Hörer hat sich längst zerstreut in die
anonyme Leserschaft und verflüchtigt in das stille, einsame Lesevergnügen - manchmal auch
beim Lesen von Versen.
VORLAUF. DIE MÜNDLICHE VORGESCHICHTE FRÜHER TEXTE
Göttin Gedächtnis
Als größter Wissensspeicher der Antike galt die berühmte Bibliothek von Alexandria. In der hellenistischen Welt des dritten vorchristlichen Jahrhunderts beanspruchte sie, jedes Buch der Welt zu enthalten. Ihre Zerstörung zeigte das Ende der Antike an. (Sie dürfte jedoch weniger gewaltsam als langsam zugrunde gegangen sein, weil die Papyri zerfielen.) In der Neuzeit gibt es Universal- und Spezialbibliotheken sowie Archive mit Millionen von Büchern und Schriftstücken. Hinzu kommt heute ein neuer, elektronischer Gedächtnisspeicher unvorstellbaren Ausmaßes: das weltweite Internet.
Dass schriftlich Fixiertes auf Tontäfelchen, Papyri oder anderen Schriftträgern trotz hoher Verluste Jahrtausende überdauern konnte, nehmen wir mit nur wenig Erstaunen zur Kenntnis. Dass aber mündlich von Ohr zu Ohr Weitererzähltes jahrtausendelang haltbar bleiben könnte, scheint undenkbar. Das gesprochene Wort vergeht doch mit dem Hauch der Stimme, im Augenblick! Was gäbe es Flüchtigeres? Doch es gibt nicht nur die seit über 5000 Jahren, seit Erfindung der Schrift in Mesopotamien und Ägypten, bewährten mehr oder weniger stabilen Informationsträger Ton, Stein, Papyrus, Pergament, Papier; es gibt einen heute, im Zeitalter der elektronischen Informationsüberflutung, kaum beachteten angeborenen Informationsspeicher im Menschengehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen: das Gedächtnis.
Aus heutigen noch weitgehend illiteraten Kulturen wie in Teilen Afrikas, Asiens und Südamerikas wissen wir, dass dort Menschen leben, die unvorstellbare Mengen an Informationen, d.h. von Erzählungen und Liedern, im Gedächtnis bewahren und tage- und nächtelang singend frei vortragen können. Wir wissen auch, dass in vormodernen Kulturen das Gedächtnis der Kinder für Höchstleistungen trainiert wurde (während es nunmehr durch Informationsüberflutung fast zerstört wird). Doch auch jetzt noch lernen hinduistische, buddhistische, jüdische, muslimische Schüler - im Sitzen den Oberkörper wiegend - den Inhalt ganzer Bücher wortgetreu auswendig. Warum? So besitzen sie die tradierten heiligen Texte by heart, par cœur - nicht "auswendig", wie wir sagen, sondern "inwendig". Hafis (um 1325 - 1390), der größte persische Lyriker, hieß eigentlich Schamseddin Muhammad und erhielt den Beinamen "Hafis" ("der Bewahrende"), weil er den gesamten Koran im Gedächtnis bewahrte. Noch im 18. und wohl auch noch im 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Christen, die man "bibelfest" nannte, weil sie die Bibel großenteils auswendig konnten. Und immer wieder gab es Menschen, die sich rühmen durften, das Neue Testament, Dantes "Göttliche Komödie" oder alle Werke Shakespeares im Gedächtnis zu haben.
In der griechischen Mythologie ist "die Erinnerung" eine Urgöttin: Mnemosyne, eine titanische Tochter des Himmels (Uranos) und der Erde (Gaia). Wer könnte sich gewaltigerer Eltern rühmen? Nach Hesiod gehört Mnemosyne, die "Göttin Gedächtnis", zu den großen göttlichen Mächten der Weltordnung. Mit ihr zeugte der Göttervater Zeus die Musen. Diese teilten dann den Schatz des Wissens unter sich auf, den ihre Mutter "Gedächtnis" seit jeher insgesamt besitzt.
Unser Gedächtnis, das wir nunmehr durch Informationsüberreizung weitgehend lähmen und in gewisser Weise auf Papier oder in elektronische Speichermedien verlagern, war einst und ist immer noch ein großes Geheimnis. Aurelius Augustinus beginnt in seinen "Bekenntnissen", ins eigene Innere wie in eine riesige Höhle vordringend, als erster das Gedächtnis zu erforschen. So gelangt er
zu den Gefilden und weiten Hallen des Gedächtnisses, wo sich aufgehäuft finden die Schätze unzähliger Bilder von wahrgenommenen Dingen aller Art. (X,8)
Sein Forschen steigert sich geradezu zum Hymnus:
Groß ist die Macht des Gedächtnisses, mein Gott, grauenerregend seine Tiefe und unendlich seine Vielfalt. [...] Siehe da in meinem Gedächtnis die unzähligen Gefilde, Höhlen und Grotten, übervoll von allerart unzähligen Dingen. [...] Das alles durchlaufe ich, eile im Fluge hierhin und dahin, dringe in die Tiefe, soviel ich vermag, und finde keine Grenze. So groß ist sie, die Macht des Gedächtnisses [...]. (X,17)
"Die Macht des Gedächtnisses" muss in den frühen Zeiten der Menschheit tatsächlich weit größer gewesen sein, als wir uns das heute überhaupt vorstellen können. Und es muss Menschen gegeben haben, die Meister des Gedächtnisses und der Kunst des Erinnerns gewesen sind. So wie es in Afrika, Asien und Südamerika heute noch - freilich immer mehr aussterbend - analphabetische erzählende Sänger mit einem riesigen Repertoire gibt, das seit Urzeiten weiter überliefert wurde, so muss es in den frühesten Kulturen hauptberufliche singende Erzähler gegeben haben, die ihre aus Geschehenem erwachsenen Geschichten getreu tradierten über viele Generationen hinweg, ja über Jahrtausende hin.
In verschiedenen Kulturen gab es zudem eine bewusste Ablehnung der Verschriftlichung der jeweiligen Erzählungen oder Lehren. Einerseits sollten sie Geheimwissen im Kreise der Eingeweihten bleiben, andererseits gab es geradezu einen Kult des Gedächtnisses: ein heute unvorstellbares Vertrauen auf das gesprochene Wort, auf seine unmittelbare und weiter reichende Wirkung.
Zu dem von Kindheit an auf Höchstleistung trainierten phänomenalen Gedächtnis kam etwas hinzu, was es wesentlich unterstützte und verstärkte: das Metrum und das Singen, Vers und (monotone) Melodie. Beide sind nicht zuletzt auch mnemotechnische Transportmittel für das fast endlose Weitergeben. So ist es nicht verwunderlich, dass das älteste Groß-Epos der Welt, das akkadische Zwölftafel-Epos "Gilgamesch", in gebundener Sprache abgefasst ist: Gewöhnlich kommen auf 2 mal 2 Hebungen jeweils 1 bis 3 Senkungen bei verpflichtendem trochäischem Versschluss. Auch die übrige akkadische Dichtung und die altbabylonischen Fragmente sind Poesie in Versen. Die ältesten europäischen Epen sind bekanntlich "Ilias" und "Odyssee". Diese hat Homer nicht nur als erster aufgeschrieben; er sang sie wie alle Sänger vor ihm in Versen, in Tausenden von Hexametern. Was die Philologie, die Textwissenschaft, aus ihrer Perspektive leicht übersieht: Zur Poesie gehört seit Urzeiten der in der Schrift, der "Literatur", nicht erfahrbare Klang in Metrum und Melodie. In der mündlichen Poesie, die den geschriebenen Epen und Liedern oft in riesigen Zeiträumen als Vorlauf voranging, gehörte der Wortklang zum Wesen. Poesie war wesentlich Vers und Gesang. Während der Gesang des Sängers Homer und ungezählter anderer in der Schriftwerdung verloren ging, kann man in den Texten den Rhythmus der Verse noch wie von Ferne nacherleben.
Sintflut: Die Jahrtausend-Erzählung
Weltberühmt ist der Bericht der Bibel über die Sintflut (Gen 6,5 - 9,17). Seit langem ist man überzeugt, dass diese Sage einen historischen Kern hat. Der englische Archäologe Woolley meldete in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts per Telegraph aus Mesopotamien: "Wir haben die Sintflut gefunden!" In einem Grabungsschacht bei Ur war er unter einer meterhohen Schuttschicht aus Tonscherben auf eine fast drei Meter starke Lehmablagerung gestoßen, die nur von einer riesigen Überflutung des Siedlungsgebietes stammen konnte. Und darunter fanden sich erneut Siedlungsreste, die nun aber aus der Steinzeit stammten. Nach Woolleys Berechnungen hatte die Flutkatastrophe nordwestlich vom Persischen Golf ein Gebiet von 630 Kilometern Länge und 160 Kilometern Breite verschluckt. Das geschah um das Jahr 4000 vor Christus.
Nach einem anderen, neueren Forschungsergebnis könnte ein noch früheres Ereignis als Auslöser einer Sintflut gelten. Zwei amerikanische Ozeanforscher entdeckten kürzlich am Grund des Schwarzen Meeres eine versunkene Steinzeit-Landschaft. Als das Mittelmeer durch das Schmelzen der Gletscher mächtig anstieg, ergoss sich das Wasser in einem ungeheuren Kataklysmos durch die Enge des Bosporus ins Becken dessen, was dann das Schwarze Meer wurde. Vor 7500 Jahren wurden demnach die hier siedelnden Bauern von der Flut verschlungen.
In vielen Ländern der Welt gibt es Sintflutsagen. Am wirkungsmächtigsten aber ist zweifellos der Sintflutbericht der hebräischen Bibel. Doch wann wurde er aufgeschrieben? Wie alt ist der Pentateuch, der Anfang des Alten Testaments? Die älteste der vier Quellenschriften ist wohl die des sogenannten Jahwisten. Sie stammt aus dem 9. Jahrhundert. Der zeitliche Abstand zur Flutkatastrophe in Mesopotamien beträgt also über 3000 Jahre, der zum Schwarzmeer-Kataklysmos über 4500 Jahre.
Längst weiß man, dass es eine ältere Sintfluterzählung parallel zur biblischen Sage gibt: im Gilgamesch-Epos auf der 11. Tafel des akkadischen Zwölftafel-Epos (um 1200 v. Chr.). Der sumerische König Gilgamesch selbst dürfte um 2600 v. Chr. gelebt haben. Die ältesten Teilstücke des Epen-Zyklus stammen aus der Zeit um 2000 v. Chr. Zweifellos haben den einzelnen Schreibern jeweils mündliche Berichte als Grundlage gedient. Sie müssen seit der Herrschaft des Königs Gilgamesch etwa 600 Jahre lang oral tradiert worden sein. Der zeitliche Abstand zur Flut in Mesopotamien beträgt ca. 2300 Jahre, der zur Schwarzmeer-Katastrophe 3800 Jahre.
Es ist in der Altphilologie üblich, beim minutiösen Untersuchen der frühen Texte anfangs kurz darauf hinzuweisen, dass sie das Endergebnis langer mündlicher Überlieferungsprozesse sind. Um welche geradezu unvorstellbare Dimensionen es geht - hier sind es Jahrtausende! -, das wird freilich erst klar, wenn man (wie soeben geschehen) tatsächlich einmal die ungeheuren Zeiträume feststellt, um die es sich hier konkret handeln muss! Vom archäologisch gesicherten Ereignis bis zu dessen schriftlicher Aufzeichnung vergingen über zweitausend bis über viertausend Jahre! Das sind Zeiträume der mündlichen Überlieferung ...
Versgesänge um Troia
Der Urmythos des Abendlandes ist der Kampf um Troia, wie ihn der erste große Dichter Europas, Homer, in der "Ilias" schildert und wie er im "Epikos kyklos" ergänzend dargestellt wird. Aber hat der Troianische Krieg denn je stattgefunden? Die Ausgrabungen am Hügel Hisarlik seit Schliemann sollten es beweisen. Die Identifizierung dieses Hügels als das Troia der homerischen Epen ist inzwischen mit Hilfe eindeutiger Quellen gelungen. (Michael Siebler: Troia. Mythos und Wirklichkeit. Stuttgart 2001, S. 174 f.) Der historische Kern der "Ilias" aber bleibt weiterhin "Glaubenssache" (a.a.O., S. 175). Überzeugt davon sind viele Wissenschaftler von hohem Rang wie Schadewaldt, Hölscher, Hampe, Latacz und der heutige Ausgräber in Troia Korfmann. Wenn der Troianische Krieg stattgefunden hat, dann im 13. Jahrhundert v. Chr., als Troia in den Schichten VI und VII a zerstört wurde. Homer aber hat im 8. Jahrhundert v. Chr. gelebt. Wie kam der Bericht über den Kampf um die Feste Troia über die Jahrhunderte hin zum Dichter der Ilias? "Die fortdauernde und in Hexameter-Versen festgehaltene Erinnerung an diese Geschichte während der etwa 450 bis 350 Jahre bis zu Homer - also die 'dunklen Jahrhunderte' hindurch - war gewährleistet durch die mündliche Überlieferung in den Vorträgen der Aoidoí, der Sänger an den Adelshöfen." (A.a.O., S. 175 f.) Homer repräsentiert also zunächst einmal den Abschluss einer sehr langen epischen Tradition. Es gab vor ihm eine umfangreiche mündliche Überlieferung. Die Aoidoí, die Sänger, standen einst in festem Verbund und vererbten ihr Rüstzeug weiter, in ununterbrochener Sukzession. Es bestand neben der Kenntnis der Inhalte in der Beherrschung eines umfangreichen Arsenals von festen Formeln, vorgeprägten Versteilen, einzelnen Versen, ganzen Versgruppen und typischen Szenen. So konnte der Aoidós ohne einen geschriebenen Text jede gewünschte Geschichte in jeweils spontaner Neuschöpfung vortragen. Und so schildert es Homer selbst in der "Odyssee" im 8. Gesang. Hier singt "der göttliche Sänger" Demódokos am Hofe des Phaiakenkönigs einzelne Episoden vom erst kürzlich beendeten Troia-Krieg.
Homers "Ilias" enthält rund 16.000 Hexameter, die "Odyssee" rund 12.000. Beide zusammen bieten also die gewaltige Zahl von ca. 28.000 Versen. Entsprechende Textmassen müssen insgesamt zuvor von mündlichen Sängern im Gedächtnis bewahrt und - in "Liederfolgen" - über Jahrhunderte hin vorgetragen worden sein.
Die Forscher Murko, Parry und Bowra haben die gleichbleibenden Grundstrukturen und Entstehungsbedingungen der "oral composition" aufgedeckt. Sie beobachteten und untersuchten schriftlos vorgetragene Heldenepik, vorliterarische Volkspoesie in Versen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die jahrtausendealte Tradition der analphabetischen Sänger ist in abgelegenen Weltgegenden noch heute lebendig. Ihr von Kindheit an trainiertes gewaltiges Gedächtnis speichert uralte Erzählungen, und zwar in metrischen Rhythmen. Diese gehören sozusagen als das notwendige Transportmittel von Anfang an, seit Urzeiten, zum Amt des "selbstgelehrten Sängers", wie Homer sich selbst nennt. Die schriftlich fixierten Verse Homers enthalten daher noch sehr viele der von der vorangehenden "oral poetry" geprägten Formeln.
In den letzten zwanzig Jahren haben, wie der Homerspezialist Latacz berichtet, Sprachwissenschaftler nachgewiesen, dass schon spätestens seit dem 15. Jahrhundert v. Chr. der Hexameter das Versmaß der Sängerdichtung war. Die offenbar mündlich weiter gereichten berühmten homerischen Formeln wie "schnellfüßiger Achilleus", "helmschüttelnder Hektor", "Hirte der Völker" oder "und sprach die geflügelten Worte" gehören in das schon vorhomerische Raster des improvisierten mündlichen Hexameters, des "Sechsmaßes mit seinen sechs Silbeneinheiten zu je einer Länge plus zwei Kürzen" (Latacz).
Homer war der erste Dichter des Abendlandes am Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Zum Zeitpunkt der schriftlichen Dichtung der homerischen Epen lagen rund vier Jahrhunderte hinter den Griechen, in denen es weder geschriebene Dichtung noch sonst schriftlich fixierte Texte gegeben hatte, denn die Kenntnis der Schrift war zusammen mit der mykenischen Palastkultur zwischen 1200 und 1100 v. Chr. untergegangen. Doch es gab, wie gesagt, lange vor Homer in der mykenischen Epoche Heldengesang. Die Szene belegt es, in der Achilleus selbst am Strand von Troia den "Ruhm der Männer" besingt, begleitet von der Phorminx (Ilias 9, 186 - 190). Der Dichter der "Ilias" steht jedenfalls in einer jahrhundertelangen Tradition, die in die "oral poetry" der heroischen Zeiten zurückreicht.
Buddhas Reden - mündlich überliefert
Gautama Buddha, der Stifter einer Weltreligion, hat nichts Schriftliches hinterlassen, obwohl er natürlich lesen und schreiben konnte. Es gab ja längst eine große sakrale Literatur: die Veden der Hindus. Erst im letzten vorchristlichen Jahrhundert wurden auf der Insel Ceylon die Reden Buddhas aufgeschrieben und im Pali-Kanon gesammelt. Der Buddha lebte wahrscheinlich von 570 bis 490 v. Chr. oder nach neueren Forschungen von ca. 450 bis 370 v. Chr. Demnach wurden seine Reden und Erzählungen aus seinem Leben fast ein halbes Jahrtausend lang von seinen Jüngern nur mündlich überliefert. Wie konnte das bei dem riesigen Text-Umfang des Pali-Kanons geschehen sein?
Noch während der Verbrennungsfeierlichkeiten des Buddha wurden die anwesenden fünfhundert "Heiligen" aufgefordert, sich in der nächsten Regenzeit zu treffen, um die mündliche Überlieferung dessen, was der Buddha mit seiner "Löwenstimme" gelehrt hatte, miteinander zu vergleichen. Auf diesem ersten Konzil rezitierte der Lieblingsjünger Ananda die Lehrreden, die Sutras, und Upali die Ordensregeln, wobei jeder anwesende Mönch seine eigenen Erinnerungen an Buddha-Worte zur Diskussion stellen konnte. "Auf diese Weise dauerte es allein sieben Monate, bis das Konzil den Stoff geordnet und anerkannt hatte. Danach wurden die Texte auswendig gelernt. Auch wenn sich die Mönche dabei aufteilten und gruppenweise bestimmte Stoffe memorierten, muss die Gedächtnisleistung ungeheuer gewesen sein." (Johannes Lehmann: Buddha. Lehre, Leben, Wirkung. Frankfurt a.M. 1983, S. 218)
"Rund hundert Jahre später, also etwa 390 vor Christus, kam es dann [...] zu einem zweiten Konzil [...]. Acht Monate lang wurden dort Texte aufgesagt und miteinander verglichen. [...] Wieder hundertdreißig Jahre später, also etwa um 260 vor Christus, wurde ein drittes Konzil abgehalten, das den inzwischen angewachsenen Lehrstoff neun Monate lang aufsagte und revidierte" (a.a.O.) - immer noch ohne irgendetwas davon aufzuschreiben. Erst im ersten Jahrhundert v. Chr. wurde, wie gesagt, die Lehre des Erhabenen auf Ceylon im Pali-Kanon aufgezeichnet. Hier beginnt jeder Bericht - das ist aufschlussreich - mit der stereotypen Formel: "Evam me sutam": "So habe ich gehört."
Der, der hier Gehörtes wiedergibt, ist in der Regel Ananda, ein Vetter und der Lieblingsjünger Gautamas. Es heißt, er habe sich 82.000 Aussprüche des Buddha, die er selbst hörte, und 2000 weitere, die andere ihm berichteten, gemerkt (Theragâthâ 1024). Häufig fasste der Buddha selbst Aussagen in Versen zusammen, um sie durch den Rhythmus einprägsam zu machen. Die Tradition stimmt darin überein, dass der Buddha sich immer wieder metrischer Sprache bediente. Es gibt mehrere Sammlungen mit Lehrgedichten, die zu einer frühen Schicht der Überlieferung zählen. Zwar liegt es nahe, dass es sich bei einem großen Teil der Lehrgedichte um spätere metrische Bearbeitungen von überliefertem Stoff handelt, dennoch braucht man nicht zu bezweifeln, dass auch der Buddha selbst seiner Lehre die Gestalt leicht zu verbreitender Verse gab. Gleichartige Formeln erleichterten zudem das Merken bei der Jahrhunderte währenden mündlichen Weitergabe der Reden.
Die überaus umfangreichen heiligen Texte wurden, wie berichtet, tage-, wochen-, monatelang in Gruppen memoriert. Wenn aber im Chor gesprochen werden soll, kann dies nur rhythmisch geschehen. Also waren die Textmassen, auch wenn sie nicht direkt in Verse gefasst waren, rhythmisch formuliert. Und dies noch aus einem anderen Grunde: Rhythmisches prägt sich dem Gedächtnis besser ein, wie sogar wir das noch von Merkversen her kennen.
Weshalb aber wurden die drei Konzilien zum gewaltigen Memorieren und nicht zu großen Schreibaktionen genutzt? Palmblätter als Schreibmaterial standen doch längst zur Verfügung. Der Grund ist eine der unsrigen entgegengesetzte Denkweise. Im alten Indien war man der Meinung, dass die mündliche Überlieferung zuverlässiger sei als die schriftliche. Da in allen philosophischen und religiösen Schulen Indiens das Gedächtnis höchst intensiv trainiert wurde, war diese Überzeugung wohl auch richtig. "Denn Schriftliches kann leicht falsch gelesen werden, indem man Worte falsch betont und Sätze nicht richtig abteilt, und beim Abschreiben können sich leicht Fehler einschleichen. Dagegen achtete man beim Hersagen des Gelernten streng auf richtige Betonung und richtige Abteilung der Sätze. So überlieferte man das Gehörte nicht nur wortgetreu, sondern auch lautgetreu." (Buddhas Reden. Neuübertragung von Kurt Schmidt. Reinbek 1961, S. 8) So wird der Eindruck erweckt, als wäre das Buddha-Wort sozusagen auf Tonband aufgenommen.
Geheimlehren im Kopf
Die ältesten religiösen Texte Indiens sind die Veden. (Das Sanskritwort "veda" bedeutet "Wissen", gemeint ist Geheimwissen.) Der Rigveda, "das aus Versen bestehende Wissen", ist die älteste und reichhaltigste der vier vedischen Sammlungen. Die ursprünglichsten Teile des Rigveda dürften um 1200 v. Chr. im nordwestlichen Indien entstanden sein: 1028 Hymnen, religiös-magische rituelle Preislieder, natürlich in metrischen Versen.
In der altindischen Religion waren die Götter anfangs sterblich. Um dem Tode zu entgehen, "hüllten sie sich in die Metren", die daher "chandas" (metrische Preislieder) heißen. Und sie "flüchteten sich in den Klang" der Silbe "Om". So "wurden sie unsterblich und furchtlos". (Die Veden. Chandogya Upanishad, 4. Khanda 2-4) Erst nachdem sie in die Verse und den Klang "eingehüllt" sind, werden die Götter also das, was für uns ihr Wesen ausmacht: ewig. Der Rhythmus der Metren und das Klingen der Silbe "Om" sind es - sie erzeugen Ewigkeit. Denn Verse und Klänge sind nach diesem Zeugnis eines der ältesten Weisheitsbücher der Menschheit offenbar das eigentlich Göttliche. Verse machen unsterblich.
Die vedischen Hymnen sind durch lange Jahrhunderte von Rischis, hinduistischen Weisen, ausschließlich in mündlicher Tradition weitergegeben und im Gedächtnis der Brahmanen bewahrt worden. Die Überlieferungstreue gilt als außerordentlich. Der so lange mündlich tradierte Veda wird eben deshalb stets als "shruti", d.h. "Gehörtes", bezeichnet. Die Entstehung der ältesten Teile wird auf die Zeit zwischen 1300 bis 1000 v. Chr. datiert. Wohl erst im dritten vorchristlichen Jahrhundert wurden die heute vorhandenen Texte niedergeschrieben. Sie wurden also mindestens 700 Jahre lang mündlich tradiert. Bis heute gilt in Indien nur die mündliche Tradition als autoritativ. Sie hat, wie zahlreiche innere Kriterien zeigen, die Wortgestalt Wort für Wort bewahrt. Der Veda ist also bis heute eine von den Brahmanen weitgehend mündlich überlieferte sakrale Poesie von ungeheurem Ausmaß: Die verschriftlichte Sammlung der Veden übertrifft den Umfang der Bibel um das Sechsfache!
Zur vedischen Literatur gehören die zunächst ebenfalls mündlich überlieferten Upanischaden. Das Sanskritwort bedeutet, genau genommen: dicht (upa) zu den Füßen des Lehrers nieder (ni) sitzend (schad), um - ohne belauscht zu werden - die Geheimlehre zur Erlösung durch das Wissen (veda) zu erlangen.
Ursprünglich wurde der Veda von den nordindischen Ariern absichtlich nicht aufgeschrieben, sondern in jahrelanger Mühsal - man spricht von zwölf Jahren - auswendig gelernt und durch Rezitieren weitergegeben. Wurde aber ein Angehöriger einer nichtarischen Kaste versehentlich Zeuge einer vedischen Rezitation des Geheimwissens, wurde ihm, so heißt es, zur Strafe glühendes Blei in die Ohren gegossen.
Pythagoras (etwa 570 bis 500 v. Chr.), jedem Schüler bekannt durch seine Dreiecksformel, leitete in den drei letzten Jahrzehnten des 6. vorchristlichen Jahrhunderts eine religiös-politische Lebensgemeinschaft und genoss wohl schon zu Lebzeiten göttliche Verehrung als Inkarnation Apollons. Er unterteilte als Lehrer seine Schüler in drei Klassen: 1. die akoustikoi, welche schweigend zuzuhören hatten, 2. in die mathematikoi, welche Fragen stellen durften, und 3. in die physikoi, welche die eigentliche Erkenntnis hatten. Die Lehre wurde geheim gehalten und nur mündlich weitergegeben, unter dem Siegel der Verschwiegenheit.
In der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. waren die Kelten oder Gallier das mächtigste Volk in Europa, dessen Herrschaft sich vom Atlantischen Ozean bis in das Herz Kleinasiens und an die Küste des Asovschen Meeres erstreckte. Aber ein geeintes keltisches Reich hat es nie gegeben. Allein durch die Institution der Druiden, einer Priesterkaste, hatten sie das Gefühl soziokultureller Zusammengehörigkeit. Die zweite Klasse im altkeltischen Gelehrtenstand waren die Barden. Sie besangen zur Harfe als Hofdichter die tapferen Taten berühmter Männer. Die dritte Klasse waren die Seher.
Das sagenumwobene Volk der Kelten hinterließ trotz seiner hohen Kultur keine schriftlichen Zeugnisse, obwohl man die Schrift kannte. Wie konnte das geschehen? Die höchst umfangreichen religiösen Texte der Druiden und die Gesänge der Barden wurden durch viele Generationen hindurch allein mündlich weitergegeben. Von der nur oral überlieferten Poesie der Festlandkelten blieb daher nichts erhalten. Von allen Völkern West- und Nordeuropas gelangte nur in Irland und Schottland das Volk der Gälen nach Annahme des Christentums dann zu einer umfangreichen Aufzeichnung seiner Literatur um 600 n. Chr. Doch neben der schriftlichen dauert die mündliche Überlieferung bis heute fort.
Berühmt ist eine Passage in Cäsars "De bello Gallico" (VI,14), in der beschrieben wird, wie im 1. Jahrhundert v. Chr. die Priesterkaste der Druiden ihr Herrschaftswissen als Geheimlehre absicherte. In ihren Schulen, so heißt es laut Cäsar, lernen die Druiden
eine große Menge von Versen auswendig. Daher bleiben manche zwanzig Jahre lang in der Schule. Es ist nämlich streng verboten, ihre Lehre aufzuschreiben, während sie in fast allen übrigen Dingen, im öffentlichen und privaten Verkehr, die griechische Schrift verwenden. Dies scheinen sie mir aus zwei Gründen so zu halten: Sie wollen ihre Lehre nicht in der Masse verbreitet sehen und zudem verhindern, dass die Zöglinge im Vertrauen auf die Schrift ihr Gedächtnis zu wenig üben.
Die indogermanischen Thraker waren jahrhundertelang eines der großen Völker der Antike. Sie besiedelten Südosteuropa sowie Teile Kleinasiens und zerfielen in zahlreiche kriegerische Einzelstämme. Nach Herodot waren es neunzig. Ihr Kernland war das heutige Bulgarien. Der Vegetations- und Weingott Dionysos soll aus Thrakien stammen. Orpheus und der Anführer des großen Sklavenaufstandes Spartacus sind die berühmtesten Thraker. Orpheus, der mythische Sänger, soll mit seinem bezaubernden Gesang nicht nur die Menschen, sondern auch wilde Tiere, Bäume und sogar Felsen bewegt haben. Seit spätarchaischer Zeit galt er als Verfasser von Epen und Hymnen für verschiedene Kulte, vor allem des Dionysos.
Die untergegangene Kultur der Thraker ist heute bekannt durch prächtige Goldfunde. Sie blieb aber rätselhaft, da die Thraker keine schriftlichen Überlieferungen hinterlassen haben, abgesehen von wenigen Votivinschriften. Ihr esoterisch verschlossenes Geistesleben wurde, wie wir vor allem von Herodot wissen, beherrscht von dionysischer Geheimbund-Religiosität, voller Mysterien und orgiastischer Kulte. So darf man sicher sein, dass sie sich bewusst allein für mündliche Überlieferung und gegen die schriftliche Fixierung ihrer Existenz entschieden haben. Daher ging das Wissen von ihr für immer verloren. Wir werden nie wissen, welches die Lieder des Orpheus waren, die einst alle Welt und sogar die Königin der Unterwelt bewegten.
Auch hier mündeten die Jahrhunderte der Mündlichkeit - wie bei den Kelten - nicht in Verschriftlichungen. Sie verstummten für immer.
Tibet ist ein letztes lebendiges Glied, das uns mit den Kulturen einer fernen Vergangenheit verbindet. Infolge seiner naturbedingten Isolierung gelang es, die esoterische Lehre des buddhistischen Lamaismus rein zu bewahren und am Leben zu erhalten. In Tibet sind Worte Siegel des Geistes, Stationen von Erfahrungen, die aus Urzeiten in die Gegenwart hineinreichen. Neben den heiligen Schriften gibt es bis heute eine mündliche Tradition insbesondere der geheimen Lehren. Die Magie des Wortes, die im Mantra kulminiert, hat großen Einfluss auf das gesamte Leben der Tibeter, besonders das religiöse. Es ist Verkörperung des Geistes und Träger geheimnisvoller, geheiligter Tradition.
Noch heute werden in Tibet und in Ladakh (Klein-Tibet) wesentliche tantrische Geheimlehren nur für Eingeweihte mündlich überliefert mit dem ausdrücklichen Befehl, nicht ohne besondere Erlaubnis darüber zu sprechen. Sonst drohen schwere Strafen.
Lehrer der Menschheit - redend, nicht schreibend
Mose, Buddha, Kungfutse, Sokrates, Jesus, Muhammad - sie waren große Lehrer der Menschheit. Ihre Lehren bestimmen - in unterschiedlichem Maße - noch heute große Teile der Weltbevölkerung. Und doch hat keiner von ihnen seine Lehre schriftlich fixiert, keiner hat sie in einem Lehrbuch aufgeschrieben. Eine höchst merkwürdige Tatsache. Natürlich konnten sie lesen und schreiben, aber sie lehrten nur mündlich, meist im direkten Gespräch mit einer kleinen Gruppe von Schülern und Jüngern. Fürchteten sie nicht, dass ihre wahrhaft weltbewegenden Lehren mit dem Verklingen ihrer Stimme, mit dem eigenen Tod und dem Tod ihrer Jünger aus der Welt verschwinden würden? Offenbar - merkwürdigerweise - nicht. Und in der Tat wurden ihre Worte von den Schülern verkündet und memoriert - teilweise in fast unermesslichem Umfang -, bis sie schließlich irgendwann gesammelt und aufgeschrieben wurden.
Mose, der wohl im 13. Jahrhundert v. Chr. lebte und als die große Gründergestalt der jüdischen Religion zu gelten hat, hat offenbar nichts geschrieben. Jedenfalls nicht die sogenannten "Fünf Bücher Mosis", die die hebräische Bibel eröffnen. In diesen selbst findet sich kein Hinweis darauf, dass er sie verfasst habe, und die moderne Bibelwissenschaft lehnt dies auch strikt ab. Der Pentateuch ist vielmehr das Ergebnis eines sich über mehr als ein Jahrtausend erstreckenden Prozesses, in dem mündlich überliefertes Sagengut sowie historische und theologische Tradition zunächst in einzelnen Quellen gesammelt und aus diesen wiederum sehr viel später mit deutlichem redaktionellem Zugriff zu einer Einheit zusammengefügt wurden.
Buddha (nach traditioneller Chronologie etwa 570 - 490, nach neuer um 450 bis etwa 370 v. Chr.) wanderte seit seiner Erleuchtung bis zu seinem Tode im 80. Lebensjahr vierzig Jahre lang lehrend durch Nordindien, begleitet von zahlreichen Mönchen. Er hat keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Seine Reden wurden, wie berichtet, seit seinem Tod immer wieder monatelang von Mönchen im Chor rezitiert und memoriert und schließlich erst fast 500 oder 400 Jahre nach seinem Tod, einige tausend Kilometer von seinem Wirkungsgebiet entfernt, auf Ceylon, schriftlich fixiert im sogenannten Pali-Kanon.
Kungfutse (Konfuzius, Kongzi) lebte wohl ungefähr zur gleichen Zeit wie Buddha, vermutlich von 551 bis 479. Seine Lehre wurde zur einflussreichsten philosophischen Geisteshaltung in China und Ostasien und seit der Han-Dynastie, die um 220 n. Chr. endete, bis zum Ende des Kaisertums - also etwa 2000 Jahre lang - verbindliche Staatsdoktrin. Er redigierte und edierte alte klassische Werke, die kanonische Geltung erlangen sollten. Seine eigene Lehre aber schrieb er nicht auf. Er führte ähnlich wie Buddha und Jesus zeitweise ein Leben als Wanderlehrer, war aber auch Gelehrter, Minister und sogar Kanzler des Staates Lu.
"Lun-yü", "Gespräche", heißt eine Sammlung von Aussprüchen des Kungfutse, angeblich aufgezeichnet von seinen Schülern. Sie enthalten Fragen der Schüler und Antworten des Meisters sowie deskriptive Passagen, die Kungfutse als Muster eines "Edlen" erweisen. Die "Gespräche" sind die wichtigste, aber kaum zuverlässige Quelle zu seiner Biographie und Philosophie. Tatsächlich war es so, erklärt der Übersetzer Richard Wilhelm, "dass Worte des Meisters sich durch mündliche Tradition Generationen lang fortgepflanzt haben, ohne schriftlich gesammelt zu werden. Man macht sich von der Kraft und Treue mündlicher Traditionen im allgemeinen in Europa wenig Begriff, wohingegen in China sich das Auswendiglernen großer Texte bis in die neueste Zeit erhalten hat." (Richard Wilhelm: Kungfutse: Gespräche. Lun Yü. Düsseldorf 1967, S. 33) Ihre heutige Gestalt haben die "Gespräche" erst in der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) erhalten. Sie wurden also ca. 300 Jahre lang mündlich überliefert. Eine zweite Sammlung, die "Schulgespräche des Kungfutse", "Kongzi jiayü", wurden vermutlich erst etwa 700 Jahre nach Kungfutses Tod zusammengestellt und sollen angeblich ebenfalls auf mündlichen Überlieferungen von Schülern beruhen und die "Gespräche" ergänzen.
Sokrates (ca. 470 - 399), einer der wenigen wahrhaft maßgebenden Menschen und wegweisenden Philosophen, hat bewusst nur mündlich gelehrt. Schriftliche Aufzeichnungen gelten ihm nur als Gedächtnisstütze für den, der längst weiß, wovon das Geschriebene handelt. So erzählt er gegen Ende von Platons "Phaidros" (274 c - 276 a), der ägyptische Gott Theut (Thot), der Erfinder der Schrift, habe dem König Thamos seine Erfindung mit der Begründung empfohlen, sie werde die Ägypter "weiser und erinnerungsfähiger machen". Der König aber habe ihn zurückgewiesen mit den Worten:
"Vergessen wird dies in den Seelen derer, die es kennen lernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, da sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittels fremder Zeichen, nicht aber von innen her aus sich selbst das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar."
Sokrates fährt nun fort:
Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen und andererseits wer diese annimmt, so als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der dürfte wohl von großer Einfalt sein.
Und doch: Was wüssten wir heute von Sokrates ohne die Schriften seines Schülers Platon, der Sokrates in seinen zahlreichen Dialogen als Fragenden und Lehrenden auftreten lässt? Hinzu kommen Berichte von Xenophon und Aristoteles. Sokrates selbst aber, von dem uns nichts Schriftliches überliefert ist, vertraute allein auf die Unmittelbarkeit, Intensität und Intimität des sich entwickelnden Gesprächs. Und dann auf das "Erinnern", das innere Besitzen des Gesagten, sein inwendiges Weiterwirken.
Jesus wanderte einst mit zwölf Aposteln und einer Gruppe von Jüngern und Jüngerinnen durch das jüdische Land, mündlich lehrend, in kleinem Kreise und auch vor größeren Menschenmengen. Die Idee, seine wahrhaft weltverändernde neue Lehre in einem Buch, in einem Katechismus etwa, festzuhalten, lag ihm offenbar völlig fern. Jesus hat nicht eine Zeile geschrieben. Wollte er denn nicht, dass die Nachwelt von seiner Lehre erführe? War es ihm etwa gleichgültig angesichts des als nahe erwarteten Weltuntergangs? Dieselbe Frage müsste man allerdings auch anderen großen Lehrern wie Mose, Buddha, Kungfutse und Sokrates stellen. Auch sie hatten ja nur eine kleine Schar von Jüngern, die die Lehrreden vernahmen und gewiss mit dem Meister diskutierten. Diese wenigen Jünger hörten die Lehre, sie behielten die Worte und bewegten sie in ihrem Herzen, wie Lukas von Maria sagt (2,19). Alle diese Lehrer der Menschheit vertrauten in geradezu unglaublicher Weise auf die Treue des Gedächtnisses ihrer kleinen Gemeinde, die "das Wort" mit Sicherheit weitergeben würde. Und siehe da: Die Jünger Jesu gaben es weiter, letztlich mit Wirkung auf Milliarden Menschen in zwei Jahrtausenden. Freilich waren diese Worte in gewisser Weise nur ein Vorlauf für die spätere Verschriftlichung, "die Schrift", die - zudem übersetzt in zahllose Sprachen - große Teile der Menschheit erreichte. Die Evangelien sind seit etwa 70 n. Chr. niedergeschrieben (die Paulus-Briefe schon früher), eine Generation nach dem Tode Jesu. Es lebten also noch Menschen, die Jesus selbst gehört hatten. Die Forschung vermutet zudem sehr frühe schriftliche Sammlungen von Worten Jesu, sogenannte Logiensammlungen. Hinzu kommt die heute nicht mehr vorstellbare Gedächtnistreue damaliger Menschen, die allerdings Phantastisches, wie in den apokryphen Schriften zum Neuen Testament, nicht ausschließt.
Es gilt als sicher, dass der Koran die authentischen Aussprüche des Propheten Muhammad (570 - 632) enthält. Über die Entstehung des Korans (wörtlich "Lesung") im ersten Drittel des 7. Jahrhunderts lässt sich mit Sicherheit aber nur sagen, dass sie sich von Muhammads erstem öffentlichen Auftreten über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren hinzog und erst postum ihren Abschluss gefunden hat. Der Prophet selbst konnte vermutlich nicht lesen und schreiben. Anscheinend wurden aber schon zu Muhammads Lebzeiten viele seiner Verkündigungen niedergeschrieben. Eine erste Sammlung von Suren soll post mortem von Muhammads früherem Schreiber Saidiq al Thamid zusammengestellt worden sein und wurde dann unter dem Kalifen Utman 653 verbindlich redigiert. Doch die Schrift diente vor allem als Gedächtnisstütze. Der Wortlaut wurde und wird immer auch auswendig gelernt und so von Generation zu Generation unmittelbar weitergegeben. Der Koran ist in rhythmischer Reimprosa geschrieben. Und so wird seine gepriesene Klangschönheit allein im halb gesungenen Vortrag erlebbar.
Mittelalterliche Epik
Das Weltepos des alten Persiens
Der größte epische Dichter der Perser war Ferdousi (wohl 939 - 1020). Er war der Homer und Vergil seines Landes zu einer Zeit, als es das alte Persien nicht mehr gab. Er dichtete das "Schahnameh", das Königsbuch. Darin erzählt er im gewaltigen Umfang von fast 60.000 Doppelversen die Geschichte des iranischen Reiches von den mythischen Uranfängen bis zum historischen Untergang durch die muslimischen Araber im 7. Jahrhundert n. Chr. Sein Wissen schöpfte er aus einigen schriftlichen Quellen sowie aus ältesten mündlich überlieferten Mythen und Sagen.
Die uralte kontinuierliche oral poetry wurde in Persien personifiziert in einem Wundervogel namens Simiurgh. Er überlebte zahllose Menschengeschlechter und vermochte es, in menschlicher Sprache von der ältesten Vergangenheit zu berichten. Sozusagen mit einer Feder dieses weisen Vogels konnte man dann seine alten Erzählungen niederschreiben.
In Persien gab es noch ein weiteres allegorisches Bild für die Weisheit der ältesten mündlichen Berichte über das Weltgeschehen. Schah Chosrau (532 - 579), sagt man, hielt einen Weltspiegel in der Hand, wenn er auf dem Thron saß. Darin sah er den hohen Himmel und alles Verborgene auf Erden - aus Vergangenheit und Gegenwart. Dieser Spiegel sammelte nicht nur die Lichter des Himmels, sondern auch die Laute der Welt. Und immer war das Bild durchklungen von Tönen, lebendig sprechend (ähnlich wie heute im Fernsehen).
In einem persischen Text heißt es - und dies ist ein drittes allegorisches Bild für die mündliche Tradierung -: Die Zypresse alter Überlieferung, die im Volk des Irans wurzelt, zieht sich mit Stamm und Zweigen bis zum Wipfel durch das "Schahnameh". All ihre vielen Blätter mit den Tausenden von Versen sind vom Atem der Menschenbrust bewegt, die da spricht und dem Hörer zurauscht die Sage vom Anbeginn bis zu unseren Tagen.
Skops, Skalden und Barden
Den "Ruhm der Männer" kündeten nicht allein Griechen und Römer, sondern später auch germanische und keltische Sänger. Bei den Westgermanen gab es bis ins frühe Mittelalter die Skops, die Gefolgschaftssänger und -dichter von Helden- und Preisliedern. Die altnordischen Skalden waren Dichter-Sänger der Wickingerzeit im Gefolge von Fürsten. Sie wirkten in Norwegen und Island im 9. - 14. Jahrhundert. Ihre in den Familien erbliche streng traditionelle Kunst verlangte besonders künstliche Versmaße und wählerischen sprachlichen Ausdruck. Die Barden waren im Mittelalter keltische Hofdichter und -sänger bei den Galliern, Gälen, Bretonen, Wallisern und Iren. Sie trugen einst bei kultischen Feiern Götter- und Heldenlieder mit Harfenbegleitung vor. (Noch heute ist die Harfe das Wappen von Irland.) Für Gallien wurden sie schon von klassischen Autoren erwähnt. In Wales, Irland und Schottland fanden sie sich bis ins 17./18. Jahrhundert. Später wurden sie einfach den altnordischen Skalden und den südgermanischen Skops gleichgestellt und durch die deutsche Bardendichtung aufgegriffen. In der romantisch verklärten germanischen Vorzeit glaubte man eine germanische Urform der Poesie zu entdecken und wiederbeleben zu können in neuen "Bardenliedern". Als mythologisch eingekleidete patriotische Lyrik tritt das Altgermanische, z.B. bei Klopstock, zeitweise an die Stelle der griechischen Antike.
Selbstverständlich war die Kunst der altgermanischen Sänger ursprünglich keine "Letternpoesie" (Herder), sondern wurde live vorgetragen. Die Blütezeit der balladesken Preis- und Heldenlieder war die Zeit von der Völkerwanderung im 4. bis etwa zum 8. Jahrhundert. Die umfangreichste Sammlung germanischer Heldendichtung, von der die deutsche einen Teil bildet, ist die "Ältere" oder "Lieder-Edda", aufgezeichnet in Island um 1260. Die um 1250 in Bergen entstandene "Thidrekssaga", eine Nacherzählung der gesamten deutschen Heldensage, dient gleichfalls der Erschließung mündlicher germanischer Heldenlieder.
Das Hildebrandslied
Dieses Fragment, dem nur die letzten Zeilen fehlen, ist das einzige erhaltene Heldenlied in deutscher Sprache. Es wurde um 840 in Fulda aufgezeichnet und ist in althochdeutschen stabreimenden Langzeilen geschrieben. Das anonyme Heldenlied wurde von germanischen Sängern mündlich tradiert, worauf sich der Eröffnungsvers ausdrücklich beruft: "Ik gihorta dat seggen [...]": Ich hörte das [Folgende] sagen [...]. Hier wird also Gehörtes wiedergegeben. Der erzählte Inhalt geht, wie im Lied selbst gesagt wird, auf die Zeit Dietrichs von Bern (das ist der Ostgotenkönig Theoderich), also auf die Zeit um 500, zurück. Daher muss das Lied ca. 350 Jahre lang mündlich überliefert worden sein.
Das Nibelungenlied
Es gibt keine erhaltenen deutschen Quellen für das um 1200 anonym entstandene mittelhochdeutsche Nibelungenlied. Der Stoff reicht in vorchristlich-germanische Zeit zurück. Genauer gesagt: Die germanischen Heldenlieder erwachsen aus der Völkerwanderungszeit. In den heroischen Liedern der Burgunden oder der merowingischen Franken werden die Handlungsverläufe vorgeformt und - von vor 500 bis etwa 1200, also in einem Zeitraum von 700 Jahren! - weitergegeben durch mündliche Tradition von Sängern. Die Stoffgeschichte ist kompliziert. Doch das neu gestaltete mittelhochdeutsche Epos hält formal fest am strophischen Aufbau aus der Überlieferung der sangbaren epischen Lieder. Die neuere Forschung geht davon aus, dass die Formelsprache des Liedes ungebrochen an die mündliche Tradition anschließt, gleichzeitig aber durch den Verfasser eine bewusste literarische Stilisierung erfährt (M. Curschmann). Darin entspricht diese mittelalterliche Entstehungsgeschichte der der ca. 1900 Jahre älteren antiken Epen des Griechen Homer.
Die Nibelungenstrophe baut sich aus vier paarweise gereimten sechstaktigen Langzeilen mit Binnenzäsur auf. Die Aufschwellung der letzten Zeile um einen weiteren Versfuß lässt dann die Strophe getragen ausklingen. So droht nicht, wie in den kurzen Reimpaaren der Artus-Epik, aus dem Zusammenfallen von metrischer und sprachlicher Gliederung ein klappernder Leerlauf zu entstehen. Die Nibelungenstrophen waren ursprünglich in kurzen gesungenen Liedern entstanden, in denen einzelne Szenen der Nibelungen-Geschichten vor Publikum live vorgetragen wurden. Auf solche seit alten Zeiten gesungen überlieferten Sagen beruft sich der Nibelungen-Dichter in der Tat selbst gleich in der Anfangszeile: "Uns ist in alten mæren wunders vil geseit [...]": Uns ist in alten Erzählungen viel Wundersames gesagt worden. Und das soll nun neu zusammengefügt und singend erzählt werden.
König Artus in Sage und Epik
Artus (französisch) oder Arthur (englisch) war einst ein sagenhafter britannischer König. Er wurde zum Mittelpunkt eines ausgedehnten Sagenkreises mit den Rittern seiner berühmten Tafelrunde: Erec, Iwein, Lanzelot, Parzival, Tristan ... Historisch gesehen war er vermutlich ein britannischer Heerführer, der um das Jahr 500 sein Volk gegen die Invasion der Angelsachsen verteidigte. In Geoffreys von Monmouth "Historia regum Britanniae" (um 1138) wird Artus vom keltischen Lokalhelden zum glanzvollen Herrscher von weltgeschichtlicher Bedeutung erhoben. Der normannische Dichter Maistre Wace erweitert Geoffreys "Historia" aufgrund mündlicher Berichte und Sagen, die, wie er sagt, "die Bretonen erzählen", in seinem "Roman de Brut" (1155). Chrétien de Troyes hat dann den klassischen Artusroman "Erec et Enide" (1170) geschrieben. In seinem Prolog weist er selbst auf die mündlichen Erzählungen als Quellen hin. Das tat auch schon Wace: "Die Erzähler haben so viel erzählt, die Fabulierer so viel gefabelt, um ihre Geschichten zu schmücken, dass jetzt alles wie erfundene Fabel erscheint" (Vers 9747 ff.). Volker Mertens erläutert:
Wir müssen mit einer reichen Erzählpraxis an anglonormannischen und französischen Höfen rechnen, ausgeübt vielleicht von zweisprachigen Spielleuten, die außer Französisch auch Bretonisch und/oder Walisisch konnten [...] und damit Zugang zu der keltischen Erzähltradition von Arthur und seinen Helden hatten. (Der deutsche Artusroman. Stuttgart 1998, S. 26)
Schließlich folgen die klassischen mittelhochdeutschen Artus-Epen (zwischen 1180 und 1210): Hartmann von Aue: "Erec" und "Iwein", Ulrich von Zatzikhoven: "Lanzelet", Wolfram von Eschenbach: "Parzival", Gottfried von Straßburg: "Tristan".
Die historischen Grundsteine der Artussage stammen aus demselben Zeitraum um 500 wie die der altnordischen "Edda"-Lieder, des althochdeutschen "Hildebrands-" und des mittelhochdeutschen "Nibelungenliedes". Es ist dies zugleich die Zeit des Ostgotenkönigs Theoderich und des Frankenkönigs Chlodwig. Die damaligen Adressaten der Lieder waren meist analphabetische Ritter; es gab längst noch keine Lesegesellschaft. Jedenfalls muss es seit der vermutlichen Lebenszeit von Artus Anfang des 6. Jahrhunderts in Britannien bis zur schriftlichen Fixierung in der "Historia" und dem ersten französischen Artus-Roman im 12. Jahrhundert etwa 600 Jahre lang vielfältige mündliche Erzähltraditionen von Gesängen über Artus und seine Ritter gegeben haben - eine außerordentliche Zeitdimension als mündlicher Vorlauf zu den ersten Verschriftlichungen!
Ob oder gar wie die geschriebene mittelhochdeutsche Artus-Epik gesungen wurde, wissen wir nicht. Die alte gesungene mündliche Überlieferung insbesondere der Heldendichtung, aber auch anderer Formen mündlicher Dichtung, war und blieb jedenfalls neben der schriftlich fixierten und ebenfalls live vorgetragenen Literatur noch lange intakt.
Volksmärchen
Die "Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm", erschienen 1812/15. Sie sind angeblich das am häufigsten übersetzte und am weitesten verbreitete deutschsprachige Buch. Die mündlich und verstreut auch schriftlich umlaufenden Volksmärchen zu sichern, war das Anliegen der Brüder Grimm, nicht nur, weil "diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener" wurden, sondern auch, um die nationale Vergangenheit des Vaterlandes herauszustellen. Man glaubte, die Märchen seien vom Volk geschaffen und "durch den Mund des Volkes" überliefert. Die insgesamt 240 von den Brüdern gesammelten Märchen gehen auf 40 verschiedene mündlich erzählende Beiträger und 30 schriftliche Quellen zurück. Die Brüder Grimm waren allerdings keineswegs die ersten Märchensammler. In vorangehenden Jahrhunderten hatten Italiener und Franzosen sowie in Deutschland Musäus, Neubert und Tieck Märchensammlungen publiziert.
Das Alter der insgesamt über sehr lange Zeit zunächst mündlich weiter erzählten Märchen ist unbestimmt, die Motive sind wohl noch älter als die Erzählungen, die in Europa vermutlich während des Mittelalters, also vor Jahrhunderten, entstanden sind.
Inzwischen gibt es eine ganze Bibliothek von Märchensammlungen aus aller Welt, von Afghanistan bis Zypern. Denn in allen Völkern gab und gibt es seit Jahrhunderten und Jahrtausenden Geschichtenerzähler, die oft auch hauptberuflich in Zünften organisiert waren und in abgelegenen Weltgegenden zum Teil noch sind.
Dass Märchen mündlich erzählt wurden, weiß jedes Kind - oder, so muss man sagen: wusste einst jedes Kind. Erwachsene erzählten die "Hausmärchen" an langen Winterabenden oder "als fast regelmäßige Vergnügung der Feiertage" (Brüder Grimm) im Wohnzimmer sowie in den überall verbreiteten Spinnstuben. Erst die auch schon zu Zeiten der Märchensammler zunehmende Buchkultur und heute erst recht die elektronischen Medien haben das in allen Völkern verbreitete jahrtausendealte Erzählen in der Runde gründlich zerstört und weltweit durch stundenlanges Sitzen vor dem Fernseher ersetzt.
Doch das Erzählen war einst nicht nur überaus beliebt, es gab auch einen berechtigten Stolz der Erzähler auf die Richtigkeit und Genauigkeit ihrer Geschichten. Die Brüder Grimm berichten im Vorwort:
Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie [die Erzählerin Frau Viehmännin] immer bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Überlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren, stärker, als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen.
"Tausendundeine Nacht", unter diesem Titel wurde die berühmteste Erzählungssammlung der Welt bekannt. Sie besteht aus Märchen, Novellen, Anekdoten, Legenden, Fabeln. Ihren Ursprung hat sie in verschiedenen Ländern des Vorderen Orients: Sie stammt aus ägyptischer, jüdischer, syrischer, persischer und auch indischer Tradition. Es handelt sich um anonym entstandene Volkspoesie. Die Berufserzähler gestalteten ihre Geschichten vor ihren Hörern aus dem Gedächtnis, reagierten auf das Publikum und ließen sich von ihm inspirieren. Handschriften waren, soweit vorhanden, nur Gedächtnisstützen für die Erzähler. Die Anfangs- und Schlussformeln der Märchen sind gereimt; immer wieder enthält der Erzähltext auch Reimprosa. Die große Sammlung ist in verschiedenen Fassungen überliefert. Die heute vorliegende endgültige Form erhielt sie - nach einem sehr langen, kaum entwirrbaren mündlichen Vorlauf - vermutlich erst im 16. Jahrhundert in Ägypten.
"An den Nachtfeuern der Karawan-Serail" wurden einst "Märchen und Geschichten alttürkischer Nomaden" erzählt, und Elsa Sophia von Kamphoevener erzählt sie (unter diesem Titel, veröffentlicht 1956/57) frei aus dem Gedächtnis zum ersten Mal in deutscher Sprache. Diese Geschichten waren, wie sie berichtet, seit 800 Jahren in Kleinasien verbreitet. Sie gehörten den Nomaden und waren Eigentum weniger Familien, die zu den Gilden der Märchenerzähler zusammengeschlossen waren. Sie wurden nie aufgeschrieben und jahrhundertelang von Erzählern live aus dem Gedächtnis gestaltet. Diese begleiteten die wandernden Hirten, die nachts bei ihren Herden am Lagerfeuer saßen. Der Erzähler war frei in der Wiedergabe, nur Anfang, Mitte und Ende mussten sein, wie sie immer gewesen waren. Daher sind Kamphoeveners Erzählungen der alttürkischen Geschichten keine Übersetzungen, sondern aus dem Gestus des mündlichen Märchenerzählens heraus spontan in rhythmischer Sprache gestaltet.
Doch wie kam eine junge deutsche Frau dazu, alttürkische Märchen zu sammeln und zu erzählen? Als Jüngling verkleidet ritt die Baronin zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Nomaden durch die Türkei und wurde in eine Erzählergilde aufgenommen. So wurde eine deutsche Frau ein vollgültiger türkischer Märchenerzähler, und die so lange mündlich überlieferten türkischen Geschichten wurden, während das freie Erzählen auch hier abzusterben begann, erstmals auf Dauer in Deutschland zu Papier gebracht. Erhart Kästner nannte ihre Sammlung "eine Nachernte zu Tausendundeiner Nacht".
Volkslieder
Die heute meist so genannten Volkslieder entstanden seit dem Spätmittelalter, genauer: wohl zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert, während sich in Deutschland eine Stadtkultur entwickelte. Ihr Alter und ihre Langlebigkeit sowie die zunächst mündlich-gedächtnismäßige Überlieferung unterschieden sie vom Gesellschafts- und Kunstlied. Die vielfältig gebauten Strophen sind fast immer gereimt, haben teilweise Assonanzen und sind reich an metrischen und rhythmischen Elementen und Wiederholungsfiguren.
Die aus England auch nach Deutschland herüberdringende Volksliedbewegung wirkte besonders durch Macphersons sogenannten "Ossian" (1760/73). Die Sammlung enthielt Stücke aus dem irisch-schottischen Sagenkreis: frei bearbeitete, ausgeweitete und willkürlich zusammengesetzte Dichtungen, die durch ihre bisher im 18. Jahrhundert unerhörte, nicht klassisch-antike Empfindungswelt eine große Wirkung entfalteten.
Eine vielseitigere und originalgetreue Wiedergabe alter, einst mündlich überlieferter Balladen bot Thomas Percy mit seinen "Reliques of Ancient English Poetry" (1765/94). Sie stützen sich auf eine Manuskriptsammlung des 16. Jahrhunderts, die das Repertoire eines mittelalterlichen Berufssängers enthält.
Herders Sammlung von Liedern und Gedichten aus verschiedenen Sprachen erschien 1778/79 im Druck unter dem Titel "Volkslieder". So wurde Herder der Initiator der deutschen Volksliedforschung, auch wenn seine Sammlungen noch ein buntes Durcheinander von echten Volksliedern und Gedichten verschiedener Poeten waren. Herder wendet sich generell gegen die "Letternpoesie" und begeistert sich für die mündlich überlieferte "Naturdichtung", als die er das von ihm erstmals so genannte "Volkslied" ansieht. Es ist ihm "der ewige Erb- und Lustgesang des Volkes". Die Volkslieder hält er für "die bedeutendsten Grundgesänge einer Nation", in denen natur- und vernunftgemäße ethische und ästhetische Werte eine allgemeinverbindliche Gestalt angenommen hätten. Auch der junge Student Goethe, der in Straßburg Jura studierte, notierte bei seinen Ritten in die Umgebung für Herders Volksliedsammlung Lieder "aus den Kehlen der ältesten Müttergens".
1806/08 erschien "Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano". Aus ganz Deutschland wurden Tausende von Liedern eingesandt, von denen nur ein Bruchteil in die drei Bände aufgenommen wurde. Sie enthalten zahlreiche mündlich überlieferte und namenlose Lieder, aber auch Lieder bekannter Autoren seit dem 16. Jahrhundert, Lieder zeitgenössischer Dichter und sogar eigene Verse - ein buntes Gewimmel: etwa 700 Liebes-, Wander-, Soldaten-, Trink- und Kinderlieder, geistliche Lieder, Abschiedsklagen, Balladen, Gassenhauer und Abzählreime. Es waren meist Lieder, die lange Zeit in bestimmten Gegenden Deutschlands gesungen wurden.
Die romantische Auffassung von einer anonym-kollektiven Produktion durch einen schöpferischen Volksgeist gilt heute als widerlegt. Der internationalen Volksliedforschung stehen Volksliedsammlungen aus vielen Ländern der Welt zur Verfügung, die so vor dem Untergang im elektronischen Zeitalter bewahrt werden. Man betrachtet heute als das spezifische Kennzeichen die (einstige) Volkstümlichkeit und Verbreitung, die mit einer aktiven Aneignung, Überlieferung und eventuellen Umformung einhergeht.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es im deutschen Sprachraum zu einer Wiederbelebung des Volksliedes in der Jugendmusikbewegung, auch Singbewegung genannt. Auf Wanderfahrten und in geselliger Runde junger Menschen wurden alte Volkslieder und neu entstandene Lieder zur Klampfe gesungen. Bekannt wurde besonders der "Zupfgeigenhansl" von H. Breuer (1908).
Zwei neuere Sammlungen mündlich verbreiteter Verse sind der 1962 erschienene Band "Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime. Gesammelt von Hans Magnus Enzensberger", und das 1967 veröffentlichte Buch von Peter Rühmkorf: "Über das Volksvermögen. Exkurs in den literarischen Untergrund". Rühmkorfs Sammlung dokumentiert die sonst nur von Mund zu Mund verbreitete Volks- und Kinderpoesie: vom Abzählvers über den Schülerreim bis zum Antischlager und zum subversiven Gruppengesang.
Im Fernsehen sieht man in der Adventszeit regelmäßig Chöre, die alte deutsche und anderssprachige Weihnachtslieder singen. Auch die in den Alpenländern noch lebendige Hausmusik ist zu sehen und im Dialekt zu hören: oft im "Dreigesang", meist begleitet mit dem volkstümlichen Hackbrett. Wenn jedoch übers Jahr im Fernsehen traditionelle Volkslieder vorgeführt werden, sind sie meist unerträglich verkitscht, sowohl in der Darbietung wie in der Kulisse. Was außerdem im Fernsehen als sehr beliebte und erfolgreiche "Volkslied-Sendungen" firmiert, hat zum großen Teil nichts mit den altüberlieferten, einst jahrhundertelang im Volke gesungenen schlichten Liedern zu tun. Es sind oft am Computer generierte, zum alsbaldigen Verbrauch bestimmte sentimentale Schlager meist zum Mitklatschen, die als Fertigprodukte in der Tat große Massen (also "das Volk") zum Hörkonsum animieren. Sie sind eben keineswegs wie die authentischen Volkslieder Jahrhunderte alt und in froher Runde von Menschen des einfachen Volkes immer wieder gesungen, sondern jeweils für die nächste Sendung frisch produziert wie die Brötchen beim Bäcker. Und so schnell, wie sie konsumiert wurden, sind sie vergessen.
DREI PARADIGMEN DER VERSKUNST
VERSE IM KOMMUNIKATIONSPROZESS
Wer sich mit Verslehre beschäftigt, befasst sich mit Schemata der Metren und des Reims, als wären diese seit jeher gegebene Wesenheiten. Doch eine Frage wird gar nicht oder kaum gestellt: Welche Funktion hatten und haben Verse? Wozu gibt es überhaupt Metren? Verse existieren doch nicht als solche, ohne Funktionszusammenhang. Nein, sie standen und stehen in einem Kommunikationsprozess. Denn Versdichtung ist doch zunächst einmal eine eigene, besondere Art der Kommunikation. Zum Kommunikationsprozess aber gehören neben dem Sender und der Mitteilung auch die Empfänger. Vom Sender (dem Dichter) und der Mitteilung (der Dichtung) ist ständig die Rede. Aber nun ist auch einmal zu fragen: Was bewirken der Dichter und seine Dichtung beim Rezipienten? Es gibt eine Wirkungsgeschichte der Versrhythmen. Man kann hier drei Paradigmen beobachten.
1. Das alte Paradigma der mündlichen Poesie: leichte Trance
In der Frühzeit der Menschheit wurde jahrtausendelang Poesie mündlich überliefert, ja, es waren Analphabeten, die die Poesie erfanden. Zu dieser Menschheitserfindung, zur vorliterarischen Poesie, gehören unmittelbar Rhythmus und (monotoner) Gesang. Es gab einst in den frühen Jahrtausenden der Menschheit gar keine still rezipierte Dichtung. Poesie war immer live, ein Klang-Ereignis im Bannkreis von Hörern. Und der Zweck der Rhythmen und der Melodien in der Poesie war ein "anderer Zustand" (Robert Musil), den man als leichte Trance bezeichnen kann. Sie erzeugten durch ihre gleichmäßige Monotonie ein Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit. Etwas annähernd Vergleichbares erleben wir noch heute, wenn wir in einem Konzert bei abgedunkeltem Licht in die Welt der Töne versinken. Der epische Sänger sang frei aus seinem unermesslichen Gedächtnis. Einst steckte die Poesie nicht in einem Buch, sondern im Kopf des singenden Poeten. Und sie klang wider im Gemüt der von leichter Trance beseelten Hörenden.
2. Das traditionelle Paradigma der schriftlichen Poesie:
Klangschönheit
Homer ist es, der im 8. Jahrhundert v. Chr. einzigartig an der Grenze von der mündlichen zur schriftlichen Poesie steht. Er repräsentiert für das Abendland den punktuellen Abschluss einer überaus langen mündlichen epischen Überlieferung und den Anfang einer neuen, der schriftlichen Tradition. Groß-Epen wie "Ilias" und "Odyssee" waren in ihrer durchdachten Komposition nur durch die Schrift möglich. Wer aber einst auch immer den "Ruhm der Männer" gesungen haben mag - ursprünglich waren es wirkliche Gesänge, auf einem bestimmten Saiteninstrument begleitet, wie man dies auf ähnliche Weise heute noch in Asien, Afrika und Südamerika hören und sehen kann. Man möchte sich Homer noch vorstellen als Aoidós, d.h. als Sänger wie Demódokos im 8. Gesang der "Odyssee", frei singend in hohen Hallen vor Königen. Doch in der griechischen Antike geht seit der Verschriftlichung durch Homer eine Veränderung vor sich. Jetzt tragen Rhapsoden die Epen vor, "mit buntem Gewande und goldenen Ketten geschmückt" (Platon). Die berufsmäßigen Rezitatoren hatten nicht mehr das zum alten mündlichen Epen-Gesang gehörende Instrument (die Phorminx), sondern einen Stab (den Rhabdos) in der Hand und deklamierten auswendig gelernte Bücher, statt frei schöpferisch zu singen. Überdies kommentierten sie auch noch die schwer verständlich gewordenen alten Epen. So schildert Platon in seinem Dialog "Ion" den reisenden, erfolgsgewohnten Vortragskünstler.
Durch Rhapsodenvorträge wurden Homers Epen überall im griechischen Sprachraum verbreitet. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. wurden sie zu Schulbüchern, und viele Gebildete lernten sie auswendig. Der athenische Staatsführer Peisistratos (oder einer seiner Söhne) ordnete an, dass die homerischen Epen am Staatsfest Athens, den Panathenäen, durch sich ablösende Rhapsoden dem Volk vollständig zu Gehör zu bringen seien. Auch als das Zeitalter der Schriftlichkeit längst begonnen hatte, lebten also die poetischen Texte zum Teil noch mündlich fort.
Sollte man sich nicht einmal fragen, weshalb in alten Zeiten so unendlich viel Mühe darauf verwandt wurde, umfangreiche Epen, große Dramen, feinsinnige Lyrik in vielen Tausenden von meist komplizierten metrischen Versen zu formen? Da sind die Großepen "Gilgamesch", "Ilias", "Odyssee", "Äneis"; da sind die griechischen und lateinischen klassischen Dramen und die antike Lyrik. Seit Erfindung des Reims im Mittelalter kam noch die Kunst hinzu, vielfältige Reime zu finden. Otfried von Weißenburg hat 863/71 die vier Evangelien als Erster in einem althochdeutschen Buch in Tausenden von Reimversen zusammenfassend nachgedichtet. Die großen mittelhochdeutschen Epen um 1200 sind natürlich alle gereimt, ebenso wie Dantes "Divina Commedia". Die barocken Dramen sind in gereimten Alexandrinern geschrieben. Goethes "Faust" I und II bietet eine Fülle verschiedener Metren und Reimformen ...
Wozu dieser Aufwand? Man hätte das doch alles - wie heutzutage - viel, viel leichter frei von der Leber weg in lockerer Prosa oder notfalls auch in Freien Rhythmen schreiben können, um die Inhalte mitzuteilen. Wozu also diese unendliche Mühe?
Verse und dann auch Reime erfordern höchstes sprachliches Können, sind etwas nicht Alltägliches, etwas für die Ewigkeit, etwas Klangschönes. Dafür lohnte sich offenbar der überwältigende Aufwand, der heute unvorstellbar und auch nicht einmal erwünscht wäre, denn er würde als Behinderung beim schnellen, stillen Lesen betrachtet. Rhythmus und Reim aber sind akustische Phänomene, Klangereignisse. Sie stammen aus Zeiten, in denen die Poesie hörbare Klangrede war und nicht Lesefutter zwischen zwei Buchdeckeln.
Seit den Anfängen des geschriebenen Wortes wurde normalerweise laut gelesen. Wenn einer leise las, wurde das als Besonderheit vermerkt. (Vgl. Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Reinbek 2000, Kapitel Die stillen Leser, S. 55 ff.) "Seit den ersten sumerischen Tontafeln waren geschriebene Worte dazu bestimmt, laut gesprochen zu werden: Jedes Schriftzeichen trug in sich einen bestimmten Klang - wie eine Seele." (A.a.O., S. 60) "Der geschriebene Text war eine Unterhaltung auf dem Papier, damit der abwesende Partner die für ihn bestimmten Worte aussprechen konnte. Für Augustinus gehörte die Lautgestalt zum innersten Wesen des Textes [...]." (S. 59) "Das volle Verständnis der heiligen Schriften [...] erforderte nicht nur den Einsatz der Augen, sondern den des ganzen Körpers: Er musste sich im Rhythmus der Sätze wiegen [...]." Wie bei den Juden ist auch bei den Muslimen "der ganze Körper am Lesen der heiligen Texte beteiligt." (S. 60) "Lesen war eine Art des Denkens und Sprechens." (S. 61) Bis weit ins Mittelalter galt, dass gelesene Texte gehört wurden. Da relativ wenige Menschen lesen konnten, wurde zudem oft öffentlich vorgelesen, verlesen.
So bleiben also auch Verse über lange Zeit noch hörbar. Gewiss erzeugen sie nicht mehr die geheimnisvolle leichte Trance, die einst der Sänger mit seiner monotonen Melodie unter Begleitung durch die "helltönende Leier" im Bannkreis seiner Zuhörer zu erzeugen vermochte. Aber die Klangschönheit und Erhabenheit der gebundenen Sprache bleibt auf die Dauer höchst faszinierend. Sie erhebt sich in ihrer Würde und Feierlichkeit über die prosaische Alltagssprache. Die ordnende Funktion des Rhythmus stiftet einen großen Zusammenhang. Das Versmaß gibt dem zu Sagenden ein festes Maß, Gemessenheit. Gebundene Sprache ist auch verbindliche Sprache. Die Sprache der Verse erzeugt eine eigene Wirkungsmächtigkeit, die Seneca (Briefe an Lucilius 108,10), zunächst Kleanthes zitierend, so beschreibt:
"Wie unser Atem einen helleren Ton erzeugt, wenn er in der Tuba den engen, langen Rohrkanal passiert und endlich aus der erweiterten Öffnung kommt, so erhöht die gedrängte Form der im Vers gebundenen Worte die Aufnahmefähigkeit unserer Sinne." Dieselben Worte hört man sich gleichgültiger an, und sie machen weniger Eindruck, wenn der Vortrag in ungebundener Rede erfolgt. Kommt aber der Rhythmus dazu und wird ein ausgezeichneter Gedanke in einem bestimmten Versmaß vorgetragen, dann kommt er sozusagen wie ein Wurf mit besonders kräftigem Schwung auf uns zugeflogen.
3. Das moderne Paradigma: stilles Lesen
Die Stimme ist etwas augenblicklich Präsentes - und zugleich etwas Flüchtiges, Klingend-Verklingendes. Da alle Hörer sie gleichzeitig wahrnehmen, ist sie Gemeinschaft stiftend. Sie kann alle in ihren Bann schlagen. Schrift dagegen macht Gesagtes jederzeit verfügbar, übersichtlich, sie bewahrt auf Dauer. Doch sie selbst ist klanglos, stumm. Der stille Leser ist ein Einzelner, Vereinzelter, der seine Augen bewegt, ohne in seiner Abgeschiedenheit eine fremde Stimme zu hören. Also sind die Metren der Verse überflüssig, da sie nicht mehr hörbar klingen und schwingen?
Nicht ganz. Denn jahrhundertelang war, wie gesagt, Schrift nichts anderes als sichtbar gemachtes Reden. Man las halblaut! Die Texte blieben also hörbar, für jeden einzelnen Leser. Erst seit etwa 700 Jahren kann man von Lesen im heutigen Sinne sprechen. Im 14. und 15. Jahrhundert, dann nicht zuletzt befördert durch den Buchdruck, fand jener epochale Umbruch statt, den Ivan Illich als den entscheidenden Schritt "vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens" bezeichnet. Mit dem Sinneswandel vom Hören eines Textes zum Sehen "beginnt eine neue Kultur des Denkens" (Ernst Pöppel): Der Mensch verlässt die nach außen gerichtete Kommunikation, um Texte im Inneren zu denken.
Goethe beklagte noch, dass "stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede" sei. (Maximen und Reflexionen 891, Artemis Gedenkausgabe) Gottfried Benn dagegen postuliert ausdrücklich das stille Lesen. Er erklärt, "dass ich persönlich das moderne Gedicht nicht für vortragsfähig halte [...] - das optische Bild unterstützt meiner Meinung nach die Aufnahmefähigkeit. Ein modernes Gedicht verlangt den Druck auf Papier und verlangt das Lesen, verlangt die schwarze Letter [...], es wird innerlicher, wenn sich einer schweigend darüber beugt." (Probleme der Lyrik [1951]. Gesammelte Werke Band 4, Wiesbaden 1968, S. 1093 f.) Letztlich ist es bei Benn ein monologisches Sprechen - nahe am Verstummen -, das keinen Leser oder gar Hörer mehr im Blick hat:
Allein: du mit den Worten
und das ist wirklich allein
[...].
So scheint das ursprünglich ganz auditive Klangphänomen Vers in der Neuzeit an sein Ende gekommen zu sein. Und dennoch werden ständig weiter Verse, zahllose Verse geschrieben. Aber es sind keineswegs mehr die traditionellen.
Das 1. Paradigma der Mündlichkeit ragt in das 2. der schriftlichen Poesie hinein, indem immer wieder Verse, ja ganze Epen und Dramen auswendig gelernt werden, um sie zu Gehör zu bringen. Und desgleichen ragt das 2. Paradigma in das 3., das moderne, hinein: Die geschriebenen Verse bleiben existent, auch wenn sie lautlos und einsam gelesen werden. Doch dabei verändern sie sich.
Die höfische Dichtung des hohen Mittelalters war natürlich Vers-Poesie. Sie war um 1200 ein erster Höhepunkt der deutschen Dichtung. Damals haben die Dichtersänger ihre Lieder und großen Epen in gereimten Versen geschrieben und vor einem adligen Publikum selbst gesungen. Doch im Spätmittelalter verloren die Vers-Epen ihre Lebenskraft. "Für Leute, die gereimte Bücher nicht mehr mochten oder denen die Kunst der Reime und Verse nicht verständlich war, wurden Prosa-Auflösungen mittelhochdeutscher Versdichtungen angefertigt." (Hans Rupprich in: Geschichte der deutschen Literatur 4.1, München 1970, S. 78) Es ist die Zeit, in der die Adelskultur langsam schwindet und die Bürger der wachsenden Städte als neue Rezipienten hinzukommen. Jetzt beginnt sich das leise Lesen durchzusetzen.
Im 18. Jahrhundert wird "Versdichtung jetzt für ein anderes Publikum, nämlich für das Bürgertum, nicht mehr für den Kenner geschrieben. [...] Die eroberte Fülle von Vers- und Strophenmöglichkeiten schmilzt zusammen zu wenigen Maßen." (Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses. München 1960, S. 43) Das stille Lesen macht nun die alten, zum Hören bestimmten Vers-Klangkünste weitgehend überflüssig: Man hört sie ja nicht mehr beim Überfliegen der Zeilen. Und in der Tat: Ein Kampf gegen den Reim setzt ein. Im 4. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wird die Reimlosigkeit zur "Dreifrontenstellung: Kampf gegen den Reim in der Lyrik, Kampf gegen den Reim - den gereimten Alexandriner - im Drama und Kampf gegen den Reim in der Epik, in der ja bisher auch der gereimte Alexandriner herrschte" (a.a.O., S. 45). Die Anakreontiker dichten nun reimlose Lieder, im Drama setzt sich der Blankvers durch, und Klopstock gestaltet sein biblisches Epos "Der Messias" in Hexametern.
In der Lyrik übernimmt Klopstock antike Odenformen und gestaltet neue. "Nachdem sich Klopstock immer mehr Bewegungsfreiheit für den deutschen Sprechvers geschaffen hatte, kam er zu seiner großen Leistung: der Schaffung des freien Rhythmus" (1754). Dieser "ist fast der einzige Beitrag, den die deutsche Lyrik zum Formenschatz der Weltliteratur geliefert hat" (a.a.O., S. 53). Sein Kennzeichen ist der hymnische Ton.
Doch der Kampf gegen ein Hauptmittel der neueren gebundenen Sprache, den Reim, verhinderte nicht, dass bei Goethe und bei den Romantikern im 19. Jahrhundert das deutsche Lied wieder den Klang des Reims zurückgewinnt.
Auch Schiller verkündet feierlich (im Prolog zum "Wallenstein", seinem "dramatischen Gedicht", 1798):
Und wenn die Muse heut,
Des Tanzes freie Göttin und Gesangs,
Ihr altes deutsches Recht, des Reimes Spiel,
Bescheiden wieder fordert - tadelts nicht!
Schiller hatte guten Grund, Tadel zu fürchten, denn Reime waren ja seinerzeit nicht mehr modern. Aber: Der Reim ist schließlich wahrhaftig "altes deutsches Recht" - seit Otfried von Weißenburg, dem ersten in der gesamten Weltliteratur, der im frühen Mittelalter ein ganzes umfangreiches Buch gereimt hat.
Im "West-östlichen Divan" (1819) erzählt Goethe dann in einem vierstrophigen gereimten Gedicht die alte Geschichte von dem Sassaniden-Herrscher Behramgur († 440), von dem man sagt, er "hat den Reim erfunden", und zwar im wechselseitigen Gespräch mit seiner Geliebten.
Und so, Geliebte, warst du mir beschieden,
Des Reims zu finden holden Lustgebrauch,
Dass auch Behramgur ich, den Sassaniden,
Nicht mehr beneiden darf: mir ward es auch.
(Buch Suleika)
Trotz der Gegenbewegung in der Mitte des 18. Jahrhunderts war Goethe in der Tat der "holde Lustgebrauch" des Reims liebenswert geblieben. Und die Romantiker nahmen ohnehin "des Reimes goldnen Faden" (Heine) wie selbstverständlich wieder auf.
Noch in der repräsentativen Sammlung des Expressionismus "Menschheitsdämmerung", 1919 herausgegeben von Kurt Pinthus, sind 56% der Gedichte gereimt, 44% dagegen nicht mehr. Im 20. Jahrhundert spricht man dann immer öfter von der "Erschöpfung" des Reims und meidet ihn zunehmend.
Entsprechendes gilt vom festen Metrum. Seit die Freien Rhythmen schon bei Heine den charakteristischen hymnischen Ton zu verlieren begannen, boten sie - auch - die Lizenz zur Formlosigkeit. Robert Gernhardt erinnert daran, dass die Dichter im Laufe des 20. Jahrhunderts "immer entschlossener immer mehr Regelsysteme über Bord warfen, nicht nur den Reim, auch den Vers, das Metrum, den Takt und den Rhythmus. Als ich zu dichten begann, Anfang der 60er, war das Gedicht eine relativ kurze reimlose Mitteilung, die aus meist unerfindlichen Gründen nicht in durchlaufenden, sondern vielfach zerstückelten Zeilen abgesetzt wurde, von Leerzeilen unterbrochen und auf möglichst viel umgebendem Weiß, ganz so, wie es bereits Lewis Carroll in Alice im Wunderland dem Dichter geraten hatte:
Wir schreiben eine Zeile
Dann hacken wir sie klein
Dann würfeln wir die Teile
In bunt gemischte Reih'n
Der Wörter Reihenfolge muss
Nicht unsre Sorge sein.
Da nun konnte nichts so richtig schief gehen, aber auch nichts so recht gelingen." (Reim und Zeit. Gedichte. Stuttgart 1990, S. 78 f.)
Die zunehmende Auflösung der beiden Haupt-Bindemittel gebundener Sprache, Metrum und Reim, hat gewiss auch soziokulturelle Gründe, Hintergründe.
Ohne Vergangenes zu verklären, ist doch festzustellen: In vormodernen Zeiten waren vor allem religiös begründete Strukturen in Geltung, ihre Deutungsmuster und Lebensformen prägten den Feiertag wie den Alltag der Menschen. Ordnung und Maß galten als unbezweifelte Entstehungsgründe für Harmonie und Schönheit, also auch für die "schönen Künste" und die Poesie. Sie waren der geistige Raum, in dem die Denkenden und Fühlenden leben wollten. "Nur in einem von einem klaren Weltbild umschlossenen Raum kann das Weltgedicht entstehen" (Bernhard Kytzler über Vergils "Äneis"). Doch das alte, geschlossene Weltbild löst sich in der Neuzeit mehr und mehr auf. Luthers "Hier stehe ich ..." und Descartes' "Ich denke, also bin ich" zeigen schlaglichtartig das allmähliche Hervortreten des modernen Ich als letzte Instanz. Der Geltungsverlust der Tradition erfasst immer mehr Lebensbereiche und lässt das Ich des Einzelnen allein übrig. So zieht sich die Subjektphilosophie Kierkegaards ganz zurück auf das Existenzielle: Er nennt sich selbst "der Einzelne". In der fortschreitenden Moderne und Postmoderne lösen sich immer mehr soziale Bindungen auf, da immer mehr kollektive Sinnquellen erschöpft scheinen. Das Schwinden der kollektiven Bindungsbereitschaft und -fähigkeit zeigt sich in Ehe und Familie, Beruf und Betrieb, Parteien und Gewerkschaften, den Kirchen und dem Staat. Der Kapitalismus hat den Individualismus zu einer Ersatzreligion gemacht. Längst kam es zur "Ablösung alter Verbindlichkeiten durch Befindlichkeit und Beliebigkeit" (Hans Küng). Ja, "zwischenmenschliche Beziehungen werden zunehmend unmöglich" (Houellebecq).
Eine Gesellschaft, die ihre inneren Bindungskräfte weitgehend verliert, verändert auch ihre Denkmuster. "Die neue Unübersichtlichkeit" wird zum Kennzeichen unserer Zeit. Die moderne Kunst erklärte sich längst für autonom. Damit ist der Verlust einer verbindlichen Formensprache verbunden.
Noch im Barock war vom Prachtgebäude bis zum bescheidensten Ornament - und ebenso auch in jeder Zeile der Dichtung - alles vom gleichen Stilwillen geprägt. Im normativ entleerten Raum der Moderne findet dagegen eine Subjektivierung der Formen statt. Individualisierung und Pluralisierung lassen die seit alters gebundene Sprache der metrischen und gereimten Verstexte als überholt erscheinen. Wo es nichts Maß-Gebendes mehr gibt, gibt es auch kein Vers-Maß mehr. Wenn schließlich alles überholt und mit allem kompatibel geworden ist, entsteht jene postmoderne Leere und Unverbindlichkeit, die oft beschrieben wurde.
Regelgebundene Festigkeit des Metrums und Klangharmonie des Reims waren einst Gemeinschaft stiftend und von der Gemeinschaft gestiftet. Für eine posttraditionelle, individualisierte Gesellschaft sind sie nur noch abgestandene oder wohlige Erinnerung. Wo die geistigen und gesellschaftlichen Bindungskräfte längst nachgelassen haben, verliert sich auch die gebundene Sprache.
Dies betrifft auch die Frage, wie Verse heute zu sprechen seien. Die nunmehr selbstverständliche individuell gefärbte Sinnbetonung sprengt das alte, feste Gleichmaß des Metrums. Im Idealfall werden beide in ein rhythmisch schwebendes Gleichgewicht gebracht. So sprechen wohl heute noch Russen, Engländer, Spanier und andere Europäer (außer den Deutschen), wenn sie ihre klassischen Texte rezitieren: oft erhobenen Hauptes, mit getragener, rhythmisch schwingender Stimme.
In Deutschland stellt sich die Frage, wie die großen klassischen Verstexte auf der Bühne zu sprechen seien, ja, ob man heute überhaupt noch Verse als Verse sprechen kann. Joachim Kaiser beobachtet dies in den gegenwärtigen Theateraufführungen auch von "Klassikern", in denen oft die Fabel brutal aufgebrochen wird und die Trümmer zu freien Assoziationsanlässen ad absurdum geführt werden: "Die Forderung nach kultivierter Sprechkunst bei Versdramen wagt kaum noch jemand zu erheben; auch vermögen nur noch wenige (meist ältere) Mimen sie zu erfüllen. [...] Wenn die großen Blankverse (unserer Shakespeare-Übersetzungen, Lessings, Goethes, Schillers) von den Darstellern nicht mehr als Verse gesprochen werden können, ohne dass es künstlich, läppisch, doof-pathetisch klingt, dann wäre ein solcher Verlust schon eine kleine Katastrophe. Eine Kunst-Katastrophe."
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