Ernst Jünger -
Das Abenteuerliche Herz

119. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 28.05.2001 von C. R. (Gastvortrag)



Im Rahmen der Lichterfelder Kamingespräche wurden Passagen aus Ernst Jüngers "Das Abenteuerliche Herz" vorgestellt.

(EXTERN) Ernst Jüngers Biographie

Zwei Abschnitte über Jüngers ästhetisches Verständnis - von der Qualität originaler Begegnung bis zum Entsetzen als äußerster Steigerung der Wahrnehmung - standen im Mittelpunkt der Veranstaltung.
Zitate aus: Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz (1929)

Nachtrag zur Zinnia

Während ich mich der Umstände, unter denen ich einen neuen Gedanken faßte, meist nur unscharf zu entsinnen vermag, bleibt mir der erste Eindruck eines neuen Bildes auf das genaueste vertraut - fast, als ob es sich hier um eine andere Art der Zeit handelte, um ein leichteres und durchsichtigeres Medium, in dem auch das Entfernteste seine Farben und Umrisse leuchtend bewahrt, ich sah die Zinnia zuerst auf einem meiner Gänge mit Friedrich Georg am Muldenufer bei Fischendorf, und zwar in einer Blüte, die einer Rosette frisch geschlagener und langsam erkaltender Dukaten glich.
Merkwürdig ist, daß solche Erinnerungen mir auch die Gedanken schärfer zurückbringen, mit denen ich mich gerade beschäftigte; sie stehen wie Lichter in der Vergangenheit. So unterbrach dieser Anblick uns in einem Gespräch über die Unvollziehbarkeit einer lückenlosen Ordnung auf dieser Welt; und gerade auf die Unterbrechung führe ich es zurück, daß mir noch die Einzelheiten im Gedächtnis sind.
Immer geht von den Bildern eine höhere Sicherheit aus; sie geben den Grundstock der Erinnerung. Überall ist es die Anschauung, die das Geistige mächtig belebt; sie ist die Quelle erster Ordnung für alles Theoretische. Im Laufe der Zivilisation treten hierin leicht Mißverhältnisse ein, indem sich der Geist auf die Quellen zweiter und dritter Ordnung verläßt, wie denn auch in unserer Wissenschaft gerade das Fixierte als Quelle bezeichnet wird. Hierdurch wird die Originalität zur Seltenheit, und in der Tat nehmen die Wörter selten und original im Sprachgebrauch eine sehr ähnliche Färbung an.
Dagegen ist zu bemerken, daß der Mensch original geboren wird, und daß auch eine Verpflichtung, ihn in diesem Zustande zu erhalten, besteht. Es gibt ,neben der Formung und Züchtung durch die Institutionen, ein unmittelbares Verhältnis zur Weltbund aus ihm wächst uns die Urkraft zu. Das Auge muß, und sei es auch nur für die Spanne eines Aufschlages, die Kraft bewahren, die Werke der Erde wie am ersten Tag zu sehen, das heißt, in ihrer göttlichen Pracht.
Es gibt Zeiten - und vielleicht auch Zustände - in denen diese Gabe auf die Menschen verteilt ist wie der Tau, der auf den Blättern liegt. In anderen wiederum schwindet der goldene Äther dahin, der die Bilder umfließt, und die Dinge bleiben nur in ihren begriffenen Formen zurück. Hier kann die unmittelbare Anschauung, etwa als Dichtung, den unermeßlichen Wert einer Quelle gewinnen, die in der Wüste entspringt. Wo die Sprache erstarrte, kann das Gewicht eines Verses Bibliotheken aufwiegen, und es bewahrheiten sich in solchem Räume die unvergleichlichen Unterschiede, wie sie Hildebrand für Dietrich von Bern in Anspruch nimmt:

"--- Die Kraft der Erde
Ward in zwei Hälften unter uns verteilt,
Die eine kam auf alle die Millionen,
Die andre kam auf Dietrich ganz allein."

Das Entsetzen

Es gibt eine Art von dünnem und großflächigem Blech, mittels dessen man an kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht, gleich Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepreßt liegen, sondern durch eine sperrige Vorrichtung voneinander entfernt gehalten sind.
Auf das oberste Blatt dieses gewaltigen Stoßes hebe ich dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzt auf das zweite Blatt, das ebenfalls und mit heftigerem Knalle zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung des Falles läßt die Schläge in einer Beschleunigung aufeinanderfolgen, die einem an Tempo und Heftigkeit anwachsenden Trommelwirbel gleicht. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, der endlich die Grenzen des Bewußtseins sprengt.
So pflegt das Entsetzen den Menschen zu vergewaltigen - das Entsetzen, das etwas ganz anderes ist als das Grauen, die Angst oder die Furcht. Eher ist es schon dem Grausen verwandt, das das Gesicht der Gorgo mit gesträubtem Haar und zum Schrei geöffnetem Munde erkennt, während das Grauen das Unheimliche mehr ahnt als sieht, aber gerade deshalb von ihm mit mächtigerem Griffe gefesselt wird. Die Furcht ist noch von der Grenze entfernt und darf mit der Hoffnung Zwiesprach halten, und der Schreck - ja, der Schreck ist das, was empfunden wird, wenn das oberste Blatt zerreißt. Und dann, im tödlichen Sturze, steigern sich die grellen Paukenschläge und roten Glühlichter, nicht mehr als Warnungen, sondern als schreckliche Bestätigungen, bis zum Entsetzlichen.
Ahnst du, was vorgeht in jenem Räume, den wir vielleicht eines Tages durchstürzen werden, und der sich zwischen der Erkenntnis des Unterganges und dem Untergang erstreckt?




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