Der Berliner Künstler Martin Gietz

84. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 11.06.1999 von Martin Gietz (Gastvortrag)

Turmstadt

Turmstadt, 1988 Holzschnitt, 41 x 39



(EXTERN) Galeriebesuch: Martin Gietz

Gegenwärtigkeit im künstlerischen Werk von Martin Gietz
Der Text von Helge Martens ist dem Buch "Martin Gietz - Inspirationen" entnommen (Verlag AURIGA Berlin 1999, S. 37 ff.).

Ist es ein Glück, ein Künstler zu sein? Welche höhere Lebensform als die des Schaffenden kann es geben? Ist der Akt der künstlerischen Produktion nicht eine Explosion der Glückseligkeit?

Wer Martin Gietz und sein Werk seit längerem begleitet, ist versucht, obige Fragen mit einem unbedingten "Ja!" beantworten zu wollen. Wer schon einmal dabeigewesen ist, wenn Martin Gietz malt, zeichnet, werkelt, wird aber auch etwas Unbedingtes darin erkennen: Der Künstler ist nicht nur ein Göttergünstling, ein Sonntagskind, ein Schaffender, sondern auch ein Getriebener, ein Drängender, ein Atemloser: Das "Es muß sein!" reist stets mit, wenn der Künstler Martin Gietz Halt macht, um die Umwelt künstlerisch zu bannen. So wie andere zwanghaft zur Kamera greifen müssen und sich so die Landschaft unterwerfen, muß Martin Gietz mit Pinsel, Nadel und Stift arbeiten. Wir haben es also im allgemeinen wie im speziellen mit einer Ambivalenz des Künstlertums zu tun: Glückseligkeit und Getriebensein des Schaffenden sind eben zwei Seiten derselben Medaille. Der leidenschaftliche Künstler muß abbilden: Er muß sich folglich jedes Medium dienstbar machen, um sein Innerstes mit dem äußerlich Geschauten im Einklang abzubilden.

So ist auch die Vielzahl von Mischtechniken zu erklären, der sich Martin Gietz bedient, um der Realität gerecht zu werden. Zu nennen ist in erster Linie die von ihm eigens entwickelte Kugelschreibertechnik, welche vielen gemalten Objekten in Verbindung mit Wachskreide oder Graphit eine lyrische Heiterkeit und Leichtigkeit verleiht, welche nur so und mit dieser Technik erreicht werden kann. Das Objekt rechtfertigt die Technik: Bestimmte Landschaften scheinen wie geschaffen für das Medium Kugelschreiber. Es ist leicht einzusehen, daß ein Künstler mit beschränktem Repertoire nur einem Teil der Realität beikommen kann. Das mag dann nachträglich programmatisch abgesegnet werden, bleibt aber zweifelhaft. Wir wollen hier versuchen, den Gegenbeweis für das Werk von Martin Gietz zu führen: Daß es ihm gelingt, die ganze Wirklichkeit abzubilden! Und dieses kann nur gelingen, wenn der Künstler sich auch gegen seine Medien kreativ verhält, also mindestens zwei bewährte Ideen zu einer neuen zusammenführt. Der Künstler ist nicht nur Abbilder und Former, sondern auch Experimentator. Das mag banal klingen, ist aber die Voraussetzung, um eben diese Kunst der Mischtechnik zu schaffen und mit ihr zu arbeiten.

Martin Gietz ist ein leidenschaftlicher, expressiver Künstler, dem nach Ausdruck hungert. Mit Leidenschaft formt er die Materialien, die ihm im Alltag begegnen. Dabei ist er ganz bei sich, in sich versunken und nach innen gekehrt: Geradezu ein ruhiger Wilder. Selbst demjenigen, der später die Bilder betrachtet, wenn die Farbe längst getrocknet, die Leidenschaft sich längst befriedet hat, wird dieser Hunger nach Leben, den diese Bilder schufen, noch entgegenwehen. Diese Leidenschaft für das Leben ist Voraussetzung und Garant für die Originalität des Künstlers gleichermaßen.

Martin Gietz ist mit dieser Bürgschaft in den letzten Jahrzehnten gut umgegangen: Überall auf der Welt entstanden mehrere tausend Werke. Sie sind Ausdruck einer großen Gabe, nämlich auch am Ende des unruhigen zwanzigsten Jahrhunderts immer noch in einer Totalität leben zu können. Aus dieser Totalität folgt eine unzeitgemäße Annahme: Für den Künstler, der aus einer nicht zerfallenen, unzertrennten Welt heraus schafft, ist die gesamte Um-Welt kunstwürdig. Er braucht die Welt, die ihn noch ganz umgibt, nicht in kunstwürdige und kunstunwürdige Gegenstände einzuteilen. Er ist nicht gezwungen, die oft als unästhetisch empfundene Moderne auszublenden. Gerade weil er die verschiedensten Techniken und Medien beherrscht (der handwerkliche Aspekt ist ja in jedem Fall die Voraussetzung, denn Kunst ist immer das Produkt aus Vermögen und Wollen), kann er auch postsozialistischen Fabrikgebäuden, rezentkapitalistischen Betonmischern und grellbuntem Hauptstadtleben gerecht werden.

Der moderne Künstler litt an der Zerbrochenheit der Welt. Martin Gietz gelingt es, und das ist die eigentliche Leistung seiner Kunst, welche kunsttheoretisch nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, diese Zerrissenheit der Moderne wieder zu kitten! Nicht mit Harmoniegesäusel, sondern mit Realität! Flüchteten andere moderne Künstler noch in die bunte Exotik einer fernen Außenwelt, so wendet sich Martin Gietz nach innen. Die deutsche Wiedervereinigung hat seinem Schaffen bedeutende Impulse gegeben: Motivlich, thematisch, räumlich: Seit drei Jahren arbeitet er in seinem Atelier im ehemaligen Stahlwerk Velten. Auf Streifzügen durch das Berliner Umland und durch die Mark fängt er das ein, was uns umgibt: Eine Landschaft im Umbruch, mit verfallendem Alten und hektischem Neuen.

Diese Szenen wird es in zehn, 15 Jahren nicht mehr geben, Berlin und die neue Zeit werden die alten Strukturen überformt haben. Wir werden uns dann auf die Werke Martin Gietz' besinnen, die diese Atmosphäre eingefangen haben. Wie können wir das jetzt schon wissen? Ich spüre das täglich, wenn ich seine Radierung "Berliner Mauer bei Heiligensee“ vom Juni 1989 betrachte... Die dargestellte Mauer und der Betonplattenweg im märkischen Kiefernhain sind schon längst Geschichte, unendlich weit weg.

Die Gegenwart ist in seinen Werken wieder kunstwürdig geworden. In seinen Bildern ist nichts von einem diffusen Unbehagen an der Moderne zu spüren. Im Gegenteil, er nutzt gerade die Mittel mit Inbrunst, die ihm die Moderne zur Verfügung stellt. Unvergessen ist die Kunstaktion, als er mit einer Straßenwalze überdimensionale Holzschnitte anfertigte. Seine Collagen vereinen das weltweite Strandgut der Globalmoderne. Motivik und Methodik schließen einander in seinen Werken ein, nicht aus. Von daher ist auch die explizite Nachfrage nach Bildern, deren Gegenstand die Gegenwart, seine Gegenwart, unsere Gegenwart ist, zu erklären. Hierin drücken sich gleichermaßen die Sehnsüchte, ja Bedürfnisse von Maler und Betrachter aus, in der Moderne, im Hier und Jetzt, leben zu wollen. Wenn die ungebrochene Abbildung der modernen Wirklichkeit gelingt, wird auch das Leben in der Gegenwart reicher. Kunst als Verheißung. Da sie aber motivlich nicht aus einer Flucht geboren wurde, ist sie nicht utopisch und somit auch nicht beschönigend, sondern ehrlich. Eine Verwechslung von Kunst und Leben scheint somit ausgeschlossen, denn seine Kunst ist sein Leben.

Heißt das, daß die ästhetische Qualität hinter diese Programmatik zurücktreten muß? Nichts liegt ferner als das! In manchen Bildern sind sogar idyllische Momente vorherrschend. Interessant ist nur, daß Martin Gietz gerade die Idyllen in der Peripherie der exotischen Außenwelt, beispielsweise auf den asiatischen Reisen, einfängt. An seinem Lebensmittelpunkt Berlin hingegen stellt er sich der krassen Wirklichkeit. Seine Kunst steht nicht neben oder vor, sondern mitten in der Moderne. Was nicht ausschließt, daß wir in seinen Bildern Brandenburger Landschaftsidyllen entdecken, oder eben jene kleinen anmutigen Konstellationen, wie sie sich manchmal durch Zufall mitten in Berlin ergeben. Ja, es gibt sie immer noch, die Großstadtidylle. Und Martin Gietz hat einen Primärblick für das entwickelt, was wir erst auf den zweiten Blick oder gar nicht wahrnehmen.

Seine Kunst hat einen allgemeingültigen Anspruch. Sie kann diesem gerecht werden, weil sie die Grenze zwischen konkreter Objektwelt und reinen Subjektivismen seitens des interpretierenden Betrachters fein austaxiert: Kunst wird von drei Instanzen konstituiert: Dem dargestellten Objekt, dem formenden Künstler und dem interpretierenden Betrachter. Die beiden letztgenannten Instanzen können sich durch ihre kreative Eigenleistungen, den künstlerischen Schaffensprozeß und die betrachtende Interpretationsarbeit sehr weit von der konkreten Objektwelt entfernen. Werden diese Subjektivismen seitens des Künstlers übertrieben, wird die Kunst zu abstrakt. Wir erkennen dann zwar noch "Gelbe Quadrate", nicht mehr aber den Bezug zur konkreten Objektwelt. Dadurch wird wiederum dem Subjektivismus des Betrachters Tür und Tor geöffnet, die Kunst hat ihren Grundkonsens verloren. Eine Verständigung über Kunst ist dann unmöglich, weil jeder von sich, niemand aber mehr von der Kunst spricht. Sie würde beliebig, austauschbar, verwechselbar. Diesen doppelten Autismus finden wir im Werke Martin Gietz' nicht. Sein charakteristischer "Gietziger Stil" läßt dem Betrachter noch genug Raum für interpretatorische Eigenleistung, respektiert aber die feine Grenze zwischen Objektiv-Künstlerischem und subjektiv-Banalem.

Bei "Gelben Quadraten auf hellem Grund" blieben wir mit unserer Deutung allerdings allein, aus Interpretierbarkeit würde Hermetik werden: Die Kunst würde dann unzugänglich und somit zweifelhaft. Martin Gietz bleibt mit seiner Kunst deutlich diesseits der Subjektivitätsgrenze. Durch das Konkretisieren des Dargestellten wird uns gleichsam der Schlüssel zur Rezeption überreicht. Eine Verständigung bleibt möglich. Martin Gietz bildet nicht nur seine, sondern unsere Umwelt ab.

Wir können dem Künstler bei seinem Blick auf die Moderne folgen. Nach Velten genauso wie nach Singapur.


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